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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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einem warmen, hellen Sommertag. Ich konnte ihn mir lebhaft vorstellen, wie er seinen Enkeln lächelnd beim Spielen zusah, voller Stolz, Weisheit und gelassener Ruhe und kein bisschen bedrohlich oder gar gefährlich.
    Aber das hier war kein Park und kein Spielplatz, und der Alte hockte nicht auf einer Bank, sondern auf einem verchromten Höckerchen neben einer Liege in einem absurden Krankenzimmer. So harmlos er auch wirken mochte, so tief war er doch unweigerlich in die mörderischen Machenschaften Professor Sängers verstrickt.
    Der Alte beugte sich seufzend vor und griff nach einer Aktentasche, die er neben dem Stuhl auf dem Boden abgestellt hatte. Sie war aus abgegriffenem braunen Leder, mit Messingbeschlägen versehen und erweckte den Eindruck, als sei sie kaum weniger alt als ihr greiser Besitzer.
    Umständlich öffnete der Advokat mit zitternden Fingern die Schließe und zog einen grauen Notizblock aus der Aktenmappe hervor, ehe er sie wieder abstellte und einen grünen Bleistift aus der Innentasche seines Jacketts fischte.
    Ich konnte ein Staunen nicht unterdrücken, als ich die schwarze Weste mit Goldkette sah, die vor dem Bauch des Greises baumelte. Von Thun war eine Art lebender Anachronismus.
    Seine Kleidung, seine betuliche Art, einfach alles an ihm wirkte, als sei er versehentlich im falschen Jahrhundert gestrandet. Eine rosafarbene Zungenspitze fuhr zwischen den verwitterten schmalen Lippen des Advokaten hervor und leckte kurz über die Spitze des Bleistifts. Dann maß mich der Alte mit einem erwartungsvollen Blick.
    »Ich wäre dann so weit«, stellte er in neutralem Tonfall fest.
    »Und Sie denken, ich wäre auch so weit?« Meine Stimme triefte regelrecht vor Sarkasmus. Mein Wunsch nach dem Tod verzog sich wimmernd in einen uneinsehbaren Winkel meiner Persönlichkeit – zu heftig lärmte der Trotz, den der Alte mit wenigen Worten in mir provoziert hatte.
    »Bereit fürs Jenseits?«, fragte ich spöttisch. »Wozu dann all die Maschinen, wenn es ohnehin mit mir vorbei ist?
    Wozu all die Liebesmühe?«
    »Weil Sie interessant sind«, antwortete der Advokat, und ich suchte vergeblich und mit aufkeimender Verzweiflung nach einer Spur von Ironie im Klang seiner Worte.
    »Professor Sänger ist sehr daran gelegen, dass Sie so gut wie möglich versorgt sind.«
    Ich lachte und bemühte mich darum, meinen Zynismus nicht in hysterisches Gekicher umschlagen zu lassen.
    »Und dann schickt er mir einen Anwalt, der meinen letzten Willen niederschreiben soll. Was für ein Unsinn!«
    Der Alte hüstelte leise. »Hatten Sie in der letzten Zeit häufig Kopfschmerzen, Herr Gorresberg?«, fragte er.
    Ich schluckte. Mit einem Mal war all der Zynismus, den ich bis zuletzt krampfhaft verteidigt hatte, dahin. Fassungslos starrte ich von Thun an und schwieg. Was wusste dieser Alte?
    Verdammt, ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen! Von einem Tattergreis wie ihm, der schon mit mindestens anderthalb Fuß in der Grube stand, würde ich mich ganz bestimmt nicht ins Bockshorn jagen lassen, redete ich stumm auf mich ein. Es war eine bodenlose Frechheit, mir einen Mann wie ihn zu schicken, damit er meinen letzten Willen aufnahm. Wahrscheinlich hockte Sänger in diesem Augenblick ein paar Kammern weiter vor einem Monitor und registrierte jede meiner Reaktionen mit sadistischer Freude, zumindest aber mit erheblichem pseudowissenschaftlichen Interesse.
    »Hatten Sie nicht in letzter Zeit einen Unfall, bei dem sich ein Mann in Ihrem Alter alle Knochen brechen sollte?«, fragte ich, als ich meine Fassungslosigkeit überwunden hatte, anstelle einer Antwort.
    Der Advokat lächelte versonnen. »Ich würde weniger von einem Unfall als vielmehr von einem planmäßigen Rückzug sprechen«, antwortete er gelassen. »Aber in einem Punkt haben Sie gewiss Recht, Herr Gorresberg: Männer in meinem Alter sollten sich solcher Abenteuer enthalten. In einen Schacht springen, in dem mich ein mit Luft aufgeblasenes Kissen auffängt ...« Einen Moment lang schien von Thun durch mich hindurchzublicken, so, als betrachteten seine Augen etwas sehr weit Entferntes, etwas, das irgendwo in der Vergangenheit lag. Ein melancholischer Zug spielte um seine greisen Lippen. »Ich war schon immer zu Kapriolen aufgelegt«, erzählte er schließlich in leicht träumerischem Tonfall. »Ich hatte gerade meine Zulassung als Anwalt, da habe ich mich freiwillig bei den Fallschirmjägern gemeldet. Die haben damals nicht jeden genommen ...« Einen weiteren Augenblick lang

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