Nemesis 06 - Morgengrauen
ich, dass meine Entscheidung, sie zu verlassen, die richtige gewesen war, dachte ich bitter. So konnte ich ihr ersparen, meinen Tod hier mitzuerleben. Wahrscheinlich hasste sie mich, aber auch das war gut und richtig so. Das würde es ihr leichter machen, wenn sie hörte, dass sie die paar Kröten erbte, die ich zu hinterlassen hatte.
»Sylvia Stein«, sagte ich matt. »Sie soll meine Erbin sein.«
Der Bleistift des Advokaten kratzte über das graue Papier. Der Alte nickte beiläufig. »Die exotische Tänzerin«, kommentierte er.
Ich horchte irritiert auf und blickte den Greis misstrauisch an. »Woher kennen Sie sie?«, fragte ich. Und woher zum Teufel wusste dieser alte Knochen, dass Sylvia eine Stripperin war?
Von Thun verschanzte sich hinter ein paar Knitterfalten, die in ihrer Gesamtheit so etwas wie ein Lächeln bildeten.
»Hatten Sie nie das Gefühl, beobachtet zu werden, Herr Gorresberg?«, fragte er.
»Nein!«, entfuhr es mir energisch. Alle Melancholie des Augenblicks war plötzlich verflogen. »Paranoia ist kein mir vertrauter Wesenszug«, setzte ich sarkastisch hinzu.
»Überraschend, wie arglos manch einer doch ist«, erwiderte der Alte spitz. »Natürlich wurden Sie beobachtet, seit Sie die Schule hier verlassen haben. Sie waren viel zu kostbar, um Sie aus den Augen zu verlieren. Der vielversprechendste Kandidat der letzten Generation.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie haben doch den Film mit den Pfadfindern gesehen«, antwortete von Thun gelassen. »Haben Sie sich wiedererkannt?«
Ich nickte stumm.
»Das mit dem Rehkitz ...« Der Alte blickte mich durchdringend an. Ich musste an den Spitznamen der Fallschirmjäger denken. Grüne Teufel. Zumindest auf von Thun passte diese Bezeichnung wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Er war ein Teufel, der sich hinter der Maske eines harmlosen Großvaters versteckte. »Ich möchte wetten, Sie haben sich eingeredet, die Sache mit dem Mähdrescher sei ein Unfall gewesen«, sprach von Thun weiter, als ich nicht antwortete. »Habe ich Recht, Herr Gorresberg? Sie irren. Sie haben das Tier getötet.«
»Sie meinen, ich habe es aufgeschreckt«, korrigierte ich den Alten, wobei ich mich redlich bemühte, das seltsame Gefühl eines Déjà-vu, das sich bei der Erinnerung an das Video erneut einstellte, zu ignorieren. »Ich habe es aufgeschreckt, als ich durch den Wald gelaufen bin.« Was redete ich nur für einen Unsinn? Ich war nicht durch diesen Wald gelaufen, verflucht noch mal! »Und dann ...«
Vor meinem geistigen Auge wurde der Leib des zierlichen Tieres ein weiteres Mal vom Schneidewerk des laufenden Mähdreschers in Stücke gerissen. Fetzen von Fleisch, Blut und Knochensplitter spritzten zwischen den mit scharfen Klingen versehenen Balken hervor.
»Horchen Sie in sich hinein.« Von Thun bedachte mich mit einem herausfordernden Blick. »Sie sollten wissen, dass es nicht so gewesen ist. Haben Sie die Mauer denn immer noch nicht überwunden?«
»Welche Mauer?«
»Sagt Ihnen Doktor Gobier etwas?« Der Greis legte den Kopf schräg.
»Welche Mauer?«, wiederholte ich gereizt. »Weichen Sie mir nicht aus, von Thun! Wovon reden Sie?«
Der Advokat schüttelte bedächtig den Kopf. Fast wirkte er ein bisschen verlegen. »Es tut mir Leid, Herr Gorresberg«, sagte er in bedauerndem, aber entschlossenem Tonfall. »Ich bin wirklich nicht befugt, Ihnen das zu sagen.
Erinnern Sie sich an Doktor Gobier. Dann werden Sie auch wissen, welche Mauer Sie einreißen müssen.«
»Und wer zum Teufel ist Doktor Gobier?« Meine Geduld neigte sich deutlich ihrem Ende zu. Von Thuns geheimnistuerische Art, seine Anspielungen und aberwitzigen Behauptungen trieben mich zur Weißglut. Fast hätte ich ihn angeschrien.
Wieder schüttelte der Alte bedauernd den Kopf. Dann zuckte er mit den knochigen Schultern und seufzte tief.
»Sylvia Stein ist wirklich eine bildhübsche Frau«, sagte er in einem Tonfall, als hätten wir während der ganzen Zeit, die er hier bei mir war, über nichts anderes gesprochen als über die Stripperin. »Eine besondere Frau.«
Ich bemühte mich darum, mich zusammenzureißen und nicht endgültig die Fassung zu verlieren. Wäre da nur nicht dieses verdammte Beruhigungsmittel, von dem die Maschinen mit Sicherheit immer mehr in mich hineinpumpen würden, sobald mein Puls stieg! Ganz ruhig, ermahnte ich mich. Ich würde es diesem aalglatten Anwalt schon zeigen, aber auf eine andere Art.
»Hatte Doktor Gobier mit dem Projekt Prometheus zu tun?«, fragte ich
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