Nemesis 06 - Morgengrauen
seinen eigenen Waffen zu schlagen, so bestand wenigstens ein Hauch von Hoffnung, dass er sich meiner erbarmen würde, wenn es mir nur gelang, eine Parallele zu schaffen, auf deren Basis er Mitleid mit mir empfand.
»O ja, das habe ich«, antwortete von Thun ernst.
»Als ich wieder zu mir kam, lag ich in Heraklion im Lazarett. Alle haben mich angesehen, als sei ich schon tot.
Einem Kameraden habe ich mein Testament diktiert. Er hat es auf Butterbrotpapier geschrieben und mir dann eingesteckt. Ich habe es noch heute.«
Der Advokat starrte tief in Gedanken versunken vor sich hin und schwieg eine geraume Weile.
»Danach war ich noch in Athen und später in Heidelberg im Lazarett«, fuhr er schließlich fort. »Es war klar, dass ich nie wieder zur kämpfenden Truppe zurückkonnte. Ich habe meinen Abschied genommen. Man hat mir empfohlen, in die allgemeine SS einzutreten, weil ich dort als junger Anwalt schnell Karriere machen konnte. So gelangte ich in das Amt A in der Dienststelle Persönlicher Stab Reichsführer SS. Dort hatte ich mit Rechtsaspekten für die verschiedensten Forschungsprojekte der Studiengesellschaft für Geistesgeschichte Deutsches Ahnenerbe zu tun.
Was für ein Club von Irren da versammelt war, kann man sich heute kaum vorstellen.« Von Thun zwang sich zu einem gequälten Lächeln. »Sie müssen wissen, dass Himmler sich sehr für Esoterik und Germanentum interessierte und jeden Hansdampf, der klug daherschwätzte, mit Forschungsgeldern zugeschüttet hat. Aber lassen wir das ...«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Mein besonderes Aufgabengebiet wurde die Abwicklung von Zwangsadoptionen«, sprach der Alte weiter, und ich suchte vergeblich nach einer Spur von Scham oder schlechtem Gewissen im Klang seiner Worte.
Ebenso gut hätte er sagen können: Ich wurde Spezialist für Unterhaltsfragen. Es hätte sich nicht selbstverständlicher angehört. »Damals lernte ich Sturmbannführer Richard Krause kennen. Er suchte Kinder in Polen und in der Ukraine. Ich habe ihm mitunter in Rechtsbelangen geholfen. Er brachte mich zu Professor Sänger. Krause war mein Bindeglied zum Projekt Prometheus. Anfangs habe ich auch das nur für eine weitere Spinnerei gehalten.
Nichts Konkretes, so wie die Unterkühlungsversuche, die Dr. Rascher in Dachau machte.«
Was dich aber nicht daran gehindert hat, reinen Gewissens unschuldige Kinder für diese Spinnerei einzuklagen, fügte ich in Gedanken bitter hinzu. Ich konnte nicht fassen, wie sehr der Inhalt seiner Worte ihrem Tonfall widersprechen konnte. Von Thun redete, als sei alles, was er getan hatte, vollkommen selbstverständlich gewesen!
»Aber Sänger hatte eine besondere Ausstrahlung«, fuhr von Thun fort, und seine Stimme nahm einen leicht schwärmerischen Klang an. »Er war ein Visionär, im gleichen Maße, in dem er Wissenschaftler war. Er hat mich nach Crailsfelden eingeladen und mir sein Forschungsprojekt vorgestellt. Sänger ist ein Mann, dem man nicht widerstehen kann.«
Der Advokat schüttelte den Kopf, und ich spürte bittere Galle in mir aufsteigen, während ich mir vorstellte, wie es wohl ausgesehen haben mochte, als der Professor dem Advokaten sein Projekt vorgestellt hatte, wie er ihm unzählige makellos blonde und blauäugige Kinder vorgeführt, geradezu auf einem Tablett serviert hatte – in Einzelteile zerlegt und mit einer stinkenden Flüssigkeit für die Ewigkeit haltbar gemacht. Was war es genau gewesen, dem von Thun nicht hatte widerstehen können? Ich wollte es überhaupt nicht allzu genau wissen.
»Und wenn Krause für ihn ein vielversprechendes Kind aufgespürt hat, dann hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um es nach Crailsfelden zu holen«, erzählte der Greis verträumt weiter. »Auch wenn es reichsdeutsche Kinder waren. Da musste ich dann in der Regel eingreifen.« Er bemühte sich um ein bitteres Lächeln, doch irgendwie wirkte es eher selbstgefällig auf mich. »Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, was ein Stück Papier bewirkte, in dessen Briefkopf Persönlicher Stab des Reichsführers SS stand. Wir waren bei unseren Bemühungen immer erfolgreich.«
»Und was ist mit den Kindern geschehen?« Es fiel mir schwer, von Thuns verwickelten Ausführungen zu folgen.
Die Abscheu, die ich über das wenige, was ich zu verstehen glaubte, empfand, erschwerte es mir zusätzlich, seine Erzählungen objektiv nachzuvollziehen.
»Sie wurden nach Crailsfelden gebracht«, antwortete der Alte.
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