Nemesis 06 - Morgengrauen
versuchte man doch, alles Positive, was diesem im lebendigen Zustand anhaften mochte, auszublenden, um etwaigen Verlustschmerz zu vermeiden.
Der Fernsehschirm flammte auf, und auf ihm wurde ein Gang sichtbar, der in fahles Licht getaucht war. In weiten Abständen hingen Lampen unter der Decke, die von dicken, verstaubten Glashalbkugeln abgeschirmt wurden.
Ich kannte diesen Flur nicht. Eine Gestalt trat hinkend in das Sichtfeld der Kamera. Immer wieder blieb sie stehen und lehnte sich erschöpft gegen die Betonwände des Ganges.
Stefan! Irgendwie hatte er einen Weg in das Labyrinth unter der Burg gefunden – jedenfalls vermutete ich, dass er sich dort befand. Also gab es tatsächlich noch einen versteckten Eingang, durch den die Burg erreichbar war, aber so weit waren wir auch schon gewesen, als Stefan bei uns in der kleinen Küche angelangt war. Hatte er den Eingang zufällig gefunden, oder hatte er davon gewusst, weil er, wie Sänger erzählt hatte, zusammen mit mir und den anderen schon früher auf der Burg gelebt hatte? Hatte Stefan sich noch daran erinnern können, was damals hier geschehen war, und war letztlich ich der Einzige, der seine Erinnerungen verloren hatte? Möglicherweise war Sängers Geschichte um diesen ominösen Doktor Gobier nichts als eine Lüge. Wer konnte schon unterscheiden, wann der Alte gerade die Wahrheit sagte und wann er log.
Unsinn. Hätte Stefan von dem Ausgang gewusst, hätte das lebendige Anabolikadepot sich seine halsbrecherische Klettertour an der Burgmauer sparen können. Ich hatte seit Stunden nicht mehr darüber nachgedacht, aber nun, da ich diese Bilder sehen musste, quälte mich wieder die Frage, was mit ihm geschehen war, nachdem er den Keller erreicht hatte.
Ich atmete tief und bewusst ein und aus. Ich durfte mich nicht aufregen, egal, was gleich geschah auf diesem Videoband vor mir. Ich wünschte mir, zu dieser verfluchten Giftspritze hinübersehen zu können. Was hatte Sänger gesagt? Wenn das EEG zu starke Hirnströme verzeichnete, würde mir das Gift injiziert? Ruhig, ermahnte ich mich stumm. Stefan war tot und deshalb zweifellos nicht Täter, sondern Opfer. Und was auch immer ich gleich sah: Alles konnte manipuliert sein. Alles konnte so genial zusammengeschnitten worden sein, wie mein angeblicher Mord an Dr. Schmidt und Schwester Carla. Nichts durfte mich provozieren oder erschrecken.
Eine zweite Gestalt tauchte im Blickfeld der Kamera auf.
Dicht mit dem Rücken zur Wand bewegte sie sich den Gang hinab. Dann gab es einen Schnitt, und die beiden Gestalten waren nun aus einem anderen Winkel zu sehen; anscheinend hatte die Kamera gewechselt. Nun sah man den Schleichenden im Vordergrund des Bildes.
Er war ich.
Hast du denn etwas anderes erwartet, begann ich stumm auf mich einzureden. Sänger will dich fertig machen. Er will dich leiden sehen bis zuletzt. Er will dir die letzten Minuten deines Lebens zur Hölle machen, ehe er dich umbringt, schließlich hast du seine verdammte Schule auf dem Gewissen. Du weißt selbst am besten, wo du gewesen bist, und vor allen Dingen, wo du nicht warst.
In dem Filmausschnitt hielt ich den Napola-Dolch fest umklammert. Stefan kämpfte sich noch immer mühsam vorwärts. Allein schon auf den Beinen zu bleiben trieb ihn offensichtlich an den Rand seiner Kräfte. Ich sah, wie ich den Dolch hob. Weniger als ein Meter trennte mich von dem Sportler. Ich wollte nicht sehen, was passierte, nicht mit diesem widerlichen Horrorfilm konfrontiert werden, den der Professor sich da zusammengeschnipselt haben mochte. Aber mein Kopf war so fest an die Bahre gebunden, dass ich ihn nicht einen einzigen Millimeter bewegen konnte und das Blut in meiner Stirn alle Mühe hatte, die Venen und Adern zu passieren; obendrein ließen sich meine Lider nicht schließen, nicht einmal zur Hälfte, nicht einmal ein winzig kleines bisschen. Ich musste zusehen, wie die Klinge in meiner erhobenen Hand aus dem Hinterhalt auf Stefan hinabfuhr und sich zwischen den Schulterblättern tief in seinen Rücken bohrte. Wie vom Blitz getroffen, ging der Sportler zu Boden. Dunkles Blut trat aus der Wunde und bildete innerhalb kürzester Zeit eine erhebliche Lache auf dem Betonboden. Meine Lippen bewegten sich, aber es gab keine Tonspur, so dass ich die Worte nicht verstehen konnte. Dann verschwand ich im Dunkel eines unbeleuchteten Korridors.
Die Kamera blickte noch immer auf Stefan herab und zoomte sich an sein Gesicht heran. Es war eine einzige Grimasse des Schmerzes. Der
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