Nemesis 06 - Morgengrauen
hatte niemanden getötet! Wenn jemand mit absoluter Gewissheit behaupten konnte, dass ich nicht der Killer war, vor dem wir alle gleichermaßen geflüchtet waren, dann war das ja wohl ich selbst – unabhängig davon, wie viele manipulierte Bänder dieser senile Alte mir noch vorspielen ließ. Schließlich hatte ich auch diesen Dr. Schmidt und Schwester Carla nicht angerührt. Selbst wenn die Bilder auf dem Video echt gewesen sein sollten, dann hatte man zumindest an meiner Stimme herummanipuliert und meine Worte verändert. Diese beiden Wahnsinnigen hatten in meinem Krankenzimmer Selbstmord begangen, und anscheinend war ich noch nicht wirklich wach gewesen, als ich mich aufgesetzt und ihnen dabei zugesehen hatte, denn ansonsten könnte ich mich schließlich noch daran erinnern. Wie auch immer: Mein Gewissen war ein reines und meine Erinnerungen mittlerweile wieder lückenlos.
Von meiner Ankunft in Crailsfelden bis hin zu dem Moment, in dem der fettleibige Kneipenwirt mich mit einer Kugel niedergestreckt hatte (Übrigens: Ich war ein Held gewesen. Ich hatte Judith das Leben gerettet.), hatte ich keine Erinnerungseinbußen zu beklagen. Was zur Hölle wollte dieser vergreiste Wissenschaftler also von mir?
»Nüchtern betrachtet ist es eine absolut logische Kette.«
Sänger zog eine Grimasse, die wohl Verständnis heucheln sollte. »Zunächst Stefan und Ed. Die beiden haben dich damals auf dem Turm festgehalten, als Miriam gesprungen ist.«
»Nein«, entgegnete ich, aber der Alte redete unbeirrt weiter.
»Und dann natürlich Maria«, behauptete er. »Sie ist die treibende Kraft in diesem makaberen Kinderspiel gewesen. Bei ihr bist du anders vorgegangen. So, wie Ed und Stefan ganz banal ihre physische Kraft nutzten, um dich festzuhalten, so hast du darauf verzichtet, deine besonderen Gaben zu nutzen. Du hast sie einfach mit dem Messer umgebracht. Aber Maria wolltest du es mit gleicher Münze heimzahlen. Du hast nicht Hand an sie gelegt ...« Der Alte seufzte tief. »Aber wir beide wissen, dass du das auch nicht nötig hast. Du hast sie dazu gezwungen, so wie Miriam zu sterben. Ich weiß nicht, was du ihr für Schreckensbilder vorgegaukelt hast – sie war einmal sehr stark ... Du hast sie auf der Zinne tanzen lassen, so wie sie damals Miriam hat tanzen lassen. Allerdings hatte Maria noch die Kraft, sich zu erschießen. Ich denke, das gehörte nicht zu deinem Plan. Du wolltest sie regelrecht hinrichten, nicht wahr? Sie sollte all die Angst nacherleben, die Miriam damals erlitten hat.«
Während er die letzten Sätze ausgesprochen hatte, hatte der Professor den Kopf schräg gelegt. Mit erwartungsvoller Miene betrachtete er mich. Wenn ich doch nur seine Augen sehen könnte, dachte ich bei mir. Wie mochten sie aussehen, die Augen dieses Ungeheuers? Was mochte ich in einem solchen Augenblick in ihnen lesen können? Und: Erwartete Sänger eigentlich tatsächlich, dass ich auf seine irrsinnigen Spekulationen einging?
»Sie sind ein sehr kranker Mann, Professor.«
Ich war unglaublich stolz auf mich. Meine Stimme hatte absolut fest geklungen, fest und voller Gelassenheit, auf gar keinen Fall wie die eines Delinquenten, den man gerade auf dem Schafott festgeschnallt hatte. Möglicherweise bekam ich in diesen Sekunden zum letzten Mal Gelegenheit, mir selbst und der Welt, die sich nie für mich interessiert hatte, zu beweisen, dass sich durchaus ein ganzer Kerl hinter der Fassade des Weicheis verbarg. Ich tat gut daran, sie zu nutzen. Wenn ich sterben musste, dann wollte ich dabei wenigstens mit mir im Reinen sein.
»Du brauchst nicht zu antworten, Junge«, überging Professor Sänger meine Frage. »Ich weiß, dass es so ist. Ich kenne dich besser, als du selbst dich kennst, denn ich habe den Schlüssel zu all den Erinnerungen, die dir fehlen. Die Bilder werden dir beweisen, dass ich nicht lüge. Du ahnst nicht, was für eine Gefahr du bist. Deshalb ist der Injektor auch so eingestellt, dass du das Muskelrelaxans verabreicht bekommst, sobald das EEG ein ungewöhnliches Hirnstrombild verzeichnet. Du tötest durch deine Gedanken, Junge.«
Wenn dem so wäre, dachte ich bitter, dann wäre Sänger längst tot. »Sie könnten mich doch einfach jetzt schon umbringen«, stellte ich fest. »Warum also all die Mühe?«
Professor Sänger machte eine wegwerfende Geste. »Ich möchte, dass du begreifst, warum du sterben musst«, antwortete er.
»Und wie –«
»Ich habe leider keine Gelegenheit mehr gehabt, zu untersuchen, wozu du
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