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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Kind, das von der Zinne stürzte – meine erste große Liebe?
    Ich erinnerte mich an sie. Wenn mir alles genommen worden war – Miriam fand ich noch immer in meinem Herzen, obwohl ich darin lange nach ihr suchen musste und es einer ganzen Reihe von Träumen, Bildern und Erzählungen bedurft hatte, meine Erinnerungen schleichend zurückzuholen. Ich wusste nicht mehr, wie ihre Stimme klang, ich erinnerte mich nicht an ihren Geruch oder etwas anderes Beschreibbares. Aber da war ein Gefühl. Ein warmes Gefühl, das allein für ihren Namen stand. Ob Miriam mir als Brücke über den breiten Graben meiner verlorenen Erinnerungen dienen konnte? Wie war es eigentlich möglich, dass ich nichts mehr wusste? War es allein eine Auswirkung des Schocks über den Tod des Mädchens, das ich offenbar geliebt hatte, oder hatte dieser Doktor Gobier ... irgendetwas mit mir gemacht? Konnte ein Mensch einem anderen seine Erinnerungen rauben?
    Der Schmerz hinter meiner Stirn explodierte. Ich spürte wieder, wie sich etwas in meinem Gehirn regte, aber es waren keine Gedanken oder Erinnerungen, sondern etwas durch und durch Plastisches, Mechanisches. Konnte ich etwa fühlen, wie dieser Tumor wuchs?
    Vor meinem geistigen Auge flammte das Burgtor auf.
    Der Alptraum, in dem man mir den Zugang zur Burg verwehrt hatte – was hatte er zu bedeuten gehabt? War er wichtig gewesen? Brachte er mich vielleicht einen kleinen Schritt weiter voran?
    »Komm mit mir, Miriam«, flüsterte ich leise, während ich aufs Neue zusehen musste, wie Ed vor meinen biologischen Augen ein weiteres Mal grausam sterben musste, wie meine Hand ihm die Kehle durchtrennte. Die Finger meiner Linken krümmten sich ein wenig, so, als könnte ich Miriams schlanke Finger umklammern.
    »Komm mit mir«, bat ich.
    Unserer beider Schatten sah'n wie einer aus ...
    Erschrocken bäumte ich mich in den Lederfesseln auf.
    Das Lied! Ich hatte es gehört, ganz sicher. Misstrauisch lauschte ich, aber in dem kleinen Krankenzimmer war es, abgesehen von dem leisen Summen der medizinischen Geräte, totenstill. Woher war dieses Lied gekommen?
    Es hatte ein wenig verzerrt geklungen, so, als würde man es über einen Hof oder in einem weiten Raum hören. Ich wünschte mir, die Augen schließen zu können, um mich besser konzentrieren und besser lauschen zu können, aber dieser Wunsch blieb selbstredend ein vergeblicher.
    Auf dem Fernsehmonitor wand sich Carl auf dem
    Küchenboden. Schnitt. Und wieder die Szene mit dem Mord an Doktor Schmidt...
    Noch zehn Minuten zu leben, rechnete ich mir verzweifelt aus. Zehn Minuten! Ich musste es schaffen. Ich wusste selbst nicht genau, was ich mir davon erwartete, aber ich begann leise Lili Marleen zu summen.
    »Aus dem stillen Räume, aus der Erde Grund, hebt sich wie im Traume dein verliebter Mund ...«, flüsterte ich.
    Und dann war sie plötzlich da! Miriam! Sie stand unter dem Torbogen, streckte mir ihre Hand entgegen und war wunderhübsch wie eh und je. Stieren Auges sah ich den Arzt sterben, zugleich aber befand ich mich am Tor der Burg. Ob ich den letzten Rest von Verstand verlor? Oder hatte mein Sterben bereits eingesetzt? Hatte Sänger nicht behauptet, dass ich zunächst Stiche in meinem Herzen spüren müsste? Ich sah Miriam ebenso deutlich vor mir wie das Fernsehbild. Ich fühlte ihre kühle, weiche Haut, als sich ihre Hand um die meine schloss.
    »Auf der anderen Seite wartet jemand auf dich.«
    Die Stimme des Mädchens klang fest und so real wie das Summen der Maschinen, das ich noch immer vernahm.
    Während ein Teil meines Körpers nach wie vor an die Liege gefesselt war, schien sich ein anderer, nicht weniger realer, von mir zu lösen; es war, als gäbe es mich auf einmal zweimal! Seite an Seite traten Miriam und ich in das Dunkel unter dem hohen Torbogen. Einen Herzschlag lang hüllte uns absolute Finsternis ein, aber dann erschien vor uns ein lichtdurchfluteter Burghof. Auf der anderen Seite des Tores stand ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren, der abgeschnittene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt mit dem AC/DC-Logo trug. Der Junge von den Fotos in der Burg. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und zog ein durchaus mürrisches Gesicht.
    Der Junge war ich.
    »Ich will mit dem Kerl nichts zu tun haben«, blaffte das Kind, das ich war, und schüttelte den Kopf. »Er hat sich einen Dreck darum geschert, was man dir hier angetan hat.
    Er hat dich vergessen. Er hat einfach so weitergelebt, als sei nichts geschehen.«
    »Er

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