Nemesis 06 - Morgengrauen
und zog sich dann zurück. Ich konnte nicht sehen, wohin er ging, aber ich hörte, dass seine Schritte sich dem Ausgang näherten. Auch ob die beiden Pfleger noch im Raum waren, konnte ich nicht sehen. Mein Kopf war festgeschnallt, und meine Augenlider waren durch die Lidspreizer weit geöffnet. Ich hatte überhaupt keine andere Wahl, als geradeaus auf den mittleren Bildschirm zu blicken, der dicht unter der Decke vor meiner Bahre hing.
»Jeder zum Tode Verurteilte hat noch einen letzten Wunsch«, sagte ich leise. »Habe auch ich dieses Recht?«
»Natürlich kannst du dir etwas wünschen.« Sänger verharrte im Türrahmen. »Ich werde dir aber nicht versprechen, dass ich dir diesen Wunsch erfülle.«
»Ich möchte nur noch einmal Judith und Ellen sehen«, sagte ich.
»Nein«, entgegnete der Professor entschieden. »Es ist viel zu riskant, dich mit anderen zusammenzubringen. Ich weiß nicht, welche Kräfte die Todesangst bei dir freisetzen wird.«
»Dann beantworten Sie mir nur noch eine Frage«, bat ich. »Wer war Doktor Gobier?«
Sänger schwieg einen Moment, in dem ich mir wünschte, sein Gesicht sehen zu können, statt dazu verdammt zu sein, stier geradeaus auf den Fernsehmonitor zu blicken.
Ob ihn meine Frage überrascht hatte? Oder hatten seine dünnen Lippen sich wieder zu diesem zynischen, sichelartigen Lächeln verzogen?
»Von Thun hat geredet, nicht wahr?«, sagte der Alte schließlich, und ich glaubte leichte Verärgerung aus seiner Stimme herauszuhören, war mir aber alles andere als sicher. »Doktor Gobier war ein Psychotherapeut. Er hat euch sechs nach dem tragischen Tod von Miriam
behandelt.«
»Was hat er mit uns gemacht?«, hakte ich nach. »Warum kann ich mich an die Jahre auf der Burg nicht mehr erinnern? Warum haben wir alle vergessen, was mit uns geschehen ist?«
»Bist du sicher, dass wirklich alle vergessen haben, was geschehen ist?«, gab der Alte anstelle einer Antwort zurück.
»Warum erinnere ich mich nicht?« Ich schrie fast. Ich wollte Antworten hören, verdammt noch mal, keine Fragen! Dieser greise Menschenschinder schuldete sie mir!
Aber die einzige Antwort, die ich vernahm, war das Geräusch der Tür, die ins Schloss fiel. War das wieder eines der widerwärtigen Spiele, zu denen der Alte neigte?
Hatte er die Tür zugeworfen, um mich glauben zu machen, allein zu sein, damit er mich aus dem Verborgenen und aus nächster Nähe beobachten und sich an meinem Leid und meiner Ohnmacht laben konnte? Ich lauschte angestrengt, aber da war nichts. Nicht das Geräusch von Atem, kein Rascheln von Stoff, kein leises Schlucken oder Schmatzen, wie Menschen dieses Alters es manchmal unkontrolliert von sich geben, nichts war zu vernehmen.
Ich war allein.
Konnte es sein, dass einer der anderen tatsächlich gelogen hatte? Konnte einer von uns von Anfang an gewusst haben, was auf der Burg passieren würde?
Aber das passte doch nicht zu der Gaspatrone, die angeblich in der Küche platziert gewesen war, um uns alle zu töten!
Es sei denn, der Verräter hätte davon gewusst, meldete sich die heimtückische Stimme in meinem Hinterkopf.
Dann wäre es ihm ein Leichtes gewesen, alles so einzurichten, dass er fehlte, wenn die Patrone in der Küche ins Spiel gebracht wurde, die alle anderen auf einen Schlag tötete. Es hätte genug solcher Gelegenheiten gegeben im Laufe des Abends, und zwar für jeden von uns. Wer also konnte dieser Verräter sein?
Zu den Toten gehörte er wohl kaum. Also blieben nur Judith und Ellen. Ob man Ellen zu dieser monströsen Selbstoperation gezwungen hätte, wenn sie auf Professor Sängers Seite stand? Wohl kaum, oder? Und Judith ... ?
Nein, Judith konnte es nicht gewesen sein. Judith hatte die ganze Zeit über zu mir gehalten, an meiner Seite gestanden, sie war für mich da gewesen, sie hatte mir vertraut und umgekehrt. Judith war die Ruhe und die Unschuld in Person. Wir hatten miteinander geschlafen!
Ellen hingegen war fanatisch genug, um freiwillig bei einem solchen Experiment wie der Selbst-OP mitzuarbeiten. Vielleicht hatte Sänger tatsächlich die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, Ellen habe darauf bestanden, sich selbst die Metastasen aus dem Bauch zu holen. Sie musste die Verräterin sein. Von Anfang an hatte sie uns alle von oben herab behandelt. Sie hatte gewusst, was geschehen würde. Sie hatte es nicht nötig gehabt, sich Freunde zu machen – im Gegenteil: Es war vollkommen unsinnig, sich mit Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank anzufreunden. Eher
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