Nemesis 06 - Morgengrauen
und frei von jeglichem Schutt erwacht. Ich musste mich im Schlaf bewegt haben!
Während ich in meinen Träumen versucht hatte, das Mädchen namens Miriam zu retten, um letztlich doch tatenlos zuzusehen, wie sie sich auf Marias Kommando von den Zinnen stürzte, hatte ich einen längst vergessenen Teil meiner Vergangenheit gerächt. Ich hatte Miriams Tod gerächt. Ich hatte im Schlaf gemordet! Die Bestie in mir hatte meine Ohnmacht genutzt, um sich meinen Körper anzueignen und Selbstjustiz zu üben.
Es war, wie Professor Sänger gesagt hatte: Zuerst mussten die sterben, die mich damals festgehalten hatten, als Miriam ermordet wurde.
Wieder änderte sich das Bild auf dem Monitor, und nun erblickte ich einen schmalen Treppenschacht, an dessen oberem Ende ich Maria sehen konnte. Ihr Mund war zu einem lautlosen Schreien verzerrt, und in ihren Augen spiegelten sich blankes Entsetzen, Panik, Hysterie und Todesangst. Sie hob ihre Pistole und schoss auf die Treppe, ohne dass dort irgendetwas zu sehen gewesen wäre, auf das es sich zu schießen gelohnt hätte. Dann verschwand sie aus dem Bild, und die Kameraperspektive wechselte. Nun war der Turm aus der Richtung des Lehrerhauses zu sehen. Es musste ein wenig Zeit vergangen sein, denn nun stand Maria auf den Zinnen und tanzte ihren grotesken Todestanz.
Ich war nicht dabei, dachte ich verzweifelt. Ich habe damit nichts zu tun gehabt. Ich war das nicht! Wenigstens das nicht!
Aber ich wusste es besser. Überdeutlich erinnerte ich mich daran zurück, dass ich vom Dachfenster aus zum Turm hinüber gestarrt hatte, halb benommen und nicht mehr Herr meiner Gedanken. Wenn wahr war, was Sänger sagte, dann benötigte ich kein Messer, um zu töten. Alles, was diese Bilder mir zeigten, untermauerte die Worte des Professors. Ich, Frank Gorresberg, beherbergte eine seelenlose Bestie, die tief in meinem Hirn lauerte und auf Mord sann.
Maria hob die Pistole. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen und stürzte schließlich von der Zinne. Gnadenlos vergrößerte das Zoom ihren zerschmetterten Körper auf dem nassen Pflaster des Hofs, ehe der nächste Schnitt eingeblendet wurde. Er zeigte mein Krankenzimmer, und dieses Mal hatte ich mehr als nur eine genaue Vorstellung von dem, was kommen würde. Ich kannte diesen Filmausschnitt, denn Sänger hatte ihn mir schon einmal vorgespielt. Der junge Arzt und die rothaarige junge Schwester betraten mein Zimmer.
Wie lange mochten die Filmausschnitte angedauert haben, fragte ich mich. Zehn Minuten?
Gut. Dann blieben mir noch sagenhafte zwanzig Minuten zu leben. Ich tat vielleicht besser daran, mich zu entspannen und zu versuchen, mich auf dieses verborgene Ich zu konzentrieren, das irgendwo in mir schlummerte und das ich in diesem Moment für fünf Morde verantwortlich erklärte. Wahrscheinlich war es unsinnig, denn ich schien eine Art Schlafwandler zu sein – unmöglich, bei vollem Bewusstsein Zugang zu dieser seltsamen Persönlichkeit zu erlangen, zu der ich allem Anschein nach mutierte, sobald ich schlief. Aber es gab nichts Sinnvolleres, mit dem ich mich in den letzten Minuten meines Lebens beschäftigen konnte, und ich war bereit, mich an jedes Seidenfädchen der Hoffnung zu klammern, das sich mir bot. Es gab nur ein einziges.
Es war natürlich vollkommen absurd, aber wenn es stimmte, was Professor Sänger behauptet hatte, dann war ich so etwas wie Doktor Jekyll und Mister Hyde. Wenn er in allen Punkten die Wahrheit gesagt hatte, dann war das vielleicht das Beste, was ich mir in dieser Situation wünschen konnte. Man musste schon ein begnadeter Entfesslungskünstler sein, um sich aus den breiten Lederriemen zu befreien, die sich fest über meinen Körper spannten und schmerzhaft in meine Haut schnitten. Aber wenn diese geistigen Kräfte, die ich angeblich besaß, tatsächlich so übermächtig waren, wie der Alte behauptet hatte, dann würden sie vielleicht dazu in der Lage sein.
Was würde geschehen, wenn ich das rachsüchtige Kind in mir, das fünf erwachsene Menschen getötet hatte, mutwillig entfesselte?
Ein pochender Schmerz begann hinter meiner Stirn zu klopfen, während ich angestrengt versuchte, mich zu konzentrieren. Mit aller Macht stellte ich mir vor, in mich selbst hineinzureisen. Wo war dieser verdammte Schlüssel zu all den Jahren, die man aus meiner Erinnerung gestohlen hatte?
Ich dachte an die Fotos zurück, die ich in dem Schreibtischfach gefunden hatte. An Miriams Bild ... Miriam, das Mädchen aus meinen Träumen, das
Weitere Kostenlose Bücher