Nemesis 06 - Morgengrauen
Bodybuilder zuckte, als erlitte er Krämpfe. Schließlich aber tastete seine rechte Hand über die unebene Betonwand, und er zog sich langsam daran in die Höhe. Schleppend und hustend setzte er sich erneut in Bewegung, wobei helles, schaumiges Blut aus seinem Mundwinkel tropfte.
Für einen kurzen Moment verdunkelte sich der Bildschirm, dann erschien eine andere Szenerie darauf. Ich erkannte die Küche, in der wir laut Sänger alle hatten sterben sollen, obwohl das Bild von seltsam falsch anmutenden Farben geprägt war. Alles war in Schwarz- und Grüntönen abgebildet. Ich erkannte Carl, verängstigt in der Ecke neben Eds Stuhl kauernd, wenn auch der Wirt kaum mehr als ein dicker grüner Schemen war. Die Kamera musste eine Nachtsichtoptik haben, schlussfolgerte ich. Zu dem Zeitpunkt des Mordes an Ed war das Licht ausgefallen. Deshalb die seltsamen Farben auf dem Video.
Das Kamerazoom fuhr zurück, und nun konnte ich auch die zusammengesunkene Gestalt Cowboystiefel-Eduards in seinem Sessel sitzen sehen. Ich wusste, was nun kommen würde. Noch einmal versuchte ich den Kopf zu drehen oder die Augen zu schließen, aber auch dieses Mal erreichte ich nichts damit. Die Lederriemen hielten mich eisern fest. Die Lidklammern schmerzten an meinen Augen. Ich hatte keine andere Wahl, als weiter hinzusehen und dem Grauen mit weit aufgerissenen Augen zu folgen.
Eine dritte Gestalt erschien in der Küche und schlich in weitem Bogen um Carl, als wollte sie ausprobieren, ob der dicke Wirt etwas sehen konnte. Als Carl nicht auf sie reagierte, trat sie etwas dichter an ihn heran.
Das kann doch jeder sein, wehrte ich mich gedanklich gegen das, was ich sah. Eine konturlose Gestalt aus grünem Licht. Was sagte das denn schon?
Es ist eine Gestalt, die deine Größe hat und sich auch bewegt wie du, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Es stimmt, was Sänger sagt, du bist ein Mörder!
Der Eindringling stand nun hinter Ed. Ich wollte wegsehen, nichts auf der Welt wollte ich mehr als wegzusehen, aber ich hatte nicht die Spur einer Chance. Ganz langsam, so als genösse der Mörder den Augenblick der Allmacht, näherte sich die Klinge Eds Hals. Dann setzte er einen schnellen, gezielten Schnitt. Ed bewegte sich noch.
Ich musste mit ansehen, wie der Möchtegerncowboy nach seiner Kehle griff und verzweifelt versuchte, die Blutung zu stillen. Der grüne Schemen trat ein wenig dichter an ihn heran und packte ihn am Schopf, um seinen Kopf nach hinten zu reißen und sich kurz mit dem scharfen Messer an seiner Stirn zu schaffen zu machen, ehe er den Dolch beiseite legte und eilig den Raum verließ. Nur Sekunden später flammte das Licht auf, und für die Dauer eines Herzschlags war der Monitor in grellweißes Licht getaucht. Dann aber schien sich die Kamera automatisch an die neuen Lichtverhältnisse angepasst zu haben. In allen Details dokumentierte ihr Auge das Grauen in der Küche.
Eds linke Hand hing schlaff herab, während seine rechte noch immer in das weiche Fleisch seiner Kehle verkrallt war. Carl schien zu schreien, aber ich hörte nichts, denn auch hier fehlte der Ton. Noch immer spritzte dem Wirt Blut ins Gesicht, aber der Schreck schien ihn so sehr in der Gewalt zu haben, dass er nicht in der Lage war, aufzustehen und fortzurennen, sondern sich nur laut kreischend mit dem Rücken gegen den Küchenschrank presste.
Schließlich sackte Eds Kopf nach hinten, und das Blut pulste in immer längeren Intervallen aus der klaffenden Wunde, die von seinem Kehlkopf bis fast zum Nacken reichte.
Ich begann zu weinen. Mit einem Mal fiel aller Trotz, mit dem ich mich selbst zu schützen versucht hatte, von mir ab. Es hatte keinen Sinn, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Sänger war eine Bestie, ein Unmensch, aber kein Lügner. Ich war ein Killer! Und ich war wahnsinnig. An keine der Bluttaten, die ich auf dem Monitor hatte sehen müssen, konnte ich mich erinnern, aber ich erkannte die kalte Logik des wohl durchdachten Rachefeldzuges hinter ihnen, und ich wusste, dass beide Morde sich zu Zeitpunkten abgespielt haben mussten, an denen ich mich selbst bewusstlos am Boden liegend geglaubt hatte. Ich musste an den Augenblick zurückdenken, in welchem ich im Lehrerhaus erwacht war – in einem Sessel sitzend, obwohl ich auf der Erde liegend ohnmächtig geworden war. Dann der Einsturz im Keller: Ich war von Schutt und Geröll begraben worden, zumindest zum Teil, es konnte gar nicht anders gewesen sein. Aber ich war abseits des Geröllberges
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