Nemesis 06 - Morgengrauen
fähig bist«, schnitt Sänger mir das Wort ab. »Allerdings muss ich davon ausgehen, dass du schnell und entschlossen handelst, wie die Aufzeichnungen über den Tod von Doktor Schmidt und Schwester Carla beweisen. Deshalb soll sich niemand in deiner Nähe aufhalten. Der Injektor wird dich töten. Ihn kannst du durch deine Gedanken nicht manipulieren. Das Gift, Succinylcholin, kann man mit dem Pfeilgift Curare vergleichen, nur dass es noch tödlicher ist. Du bekommst zehn Milligramm verabreicht. Das ist das Doppelte der Dosis, die man bei einem Menschen auf jeden Fall für tödlich hält. Dadurch, dass es dir über einen Herzkatheter injiziert wird, wird es sich in weniger als dreißig Sekunden in deinem ganzen Körper ausbreiten. Es lässt sämtliche Muskeln des Körpers erschlaffen. Nur das Herz schlägt noch weiter. Die Atmung setzt aus, während du bei vollem Bewusstsein bist. Dann beginnt der Körper, die Sauerstoffreserven im Blut zu verbrauchen. Wusstest du, dass dein Herzmuskel das Organ in deinem Körper ist, das den meisten Sauerstoff verbrennt? Dort wird es zuerst zu einer Unterversorgung kommen. Die Muskelzellen sterben ab, während das Herz noch weiterarbeitet. Im Grunde ist es wie ein künstlich herbeigeführter Herzinfarkt. Man sagt, dass das Absterben des Herzens mit ungeheuren Schmerzen verbunden ist, so, als würde man minutenlang mit einem glühenden Dolch in deiner Brust herumstochern. Es tut mir Leid, dass dies der Weg ist, den du beschreiten wirst, aber es ist die sicherste Art, dich zu töten. Kurz nachdem das Herz abzusterben beginnt, macht sich die Sauerstoffunterversorgung auch in deinem Gehirn bemerkbar. Spätestens zehn Minuten nachdem das Gift injiziert wurde, ist man hirntot, obwohl das sterbende Herz noch immer pumpt und mit Kohlendioxid vergiftetes Blut durch deinen Körper jagt.«
Sängers plastische Schilderungen des Todes – oder besser gesagt des Sterbeprozesses –, der mir bevorstand, erschreckten mich auf eine seltsame, irgendwie passive Weise. Selbstverständlich hatte ich begriffen, dass er tatsächlich von mir gesprochen hatte, und ich hatte das sichere Gefühl, dass der alte Professor mir eine ganz besonders grausame Art des Sterbens zugedacht hatte.
Wahrscheinlich verübelte er mir, dass ich angeblich Schuld daran gehabt hatte, dass er das Internat hatte schließen müssen, doch weitaus mehr, als er offen zugab. Aber der Schrecken des bevorstehenden Leides erreichte mich nicht ganz. Ein bisschen fühlte ich mich, als redete der Alte an mir vorbei zu jemand anderem, obwohl er mich direkt ansah, von jemandem, der mir sehr nahe stand und dessen Schicksal mich ungemein rührte, aber nicht selbst betraf. So blieb eine seltsame Distanz, die sich wahrscheinlich darauf zurückführen ließ, dass mein Herzschlag sich während seiner Schilderungen kurzfristig beschleunigt haben musste, woraufhin unverzüglich die Dosis des Beruhigungsmittels erhöht worden war. In diesem Moment war ich ganz froh, dass es so war. Meine Lage war aussichtslos. Was hätte es mir noch genutzt, aufzubegehren?
Professor Sänger trat ganz nah an mich heran und drückte meine Rechte – die mir wie auch die andere Hand mit breiten Lederriemen dicht an den Leib gefesselt war – kurz, aber zumindest scheinbar herzlich mit seinen knochigen, dürren Fingern.
»Es war mir eine Ehre, dich gekannt zu haben, Frank«, behauptete der Alte lächelnd. »In gewisser Weise bist du der moderne Prometheus geworden. Er bringt den Menschen das Feuer und die Weisheit, und die Götter bestrafen ihn, indem sie ihn mit schweren Ketten an eine Felsklippe fesseln, wo ein Adler von der Leber des Wehrlosen frisst.
Und damit die Folter bis in alle Ewigkeit dauern kann, wächst die verwundete Leber über Nacht stets wieder nach. Du bist der Erste der neuen Generation, Frank. Du wirst die Menschheit vorwärts bringen, so wie es noch nie ein einzelnes Individuum zuvor getan hat. Und nun liegst du hier gefesselt. Doch der Tod wird schnell seinen Weg zu dir finden.«
Der Alte griff ein weiteres Mal nach meiner Hand und drückte sie etwas fester als zuvor. »Was sagt man, wenn man sich unter diesen Umständen trennt? Lebe wohl wäre wohl recht zynisch«, fragte er und zog eine Grimasse.
»Belassen wir es dabei, dass du der außergewöhnlichste Mensch warst, dem zu begegnen ich in meinem langen Leben die Ehre hatte.«
Ich bin gerührt, dachte ich verbittert. Sänger ließ meine Hand los, nickte ein letztes Mal kurz in meine Richtung
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