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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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verkniffen, aber der Hüne lächelte und wandte sich tatsächlich zum Gehen. Eigentlich hätte ich auch einfach seine Gedanken manipulieren können, dachte ich. Ich musste mich wohl noch daran gewöhnen, dass ich von nun an in einer Welt voller ungeahnter neuer Möglichkeiten lebte.
    »Was hast du mit dem gemacht?«, flüsterte Ellen, als der Pfleger sich ein Stück den Gang hinunter entfernt hatte.
    »Das erkläre ich dir später«, gab ich schulterzuckend zurück. »Ich ... ich war in seinen Gedanken ... Ich kann es selbst noch nicht ganz erklären.«
    Ich spürte, dass jemand hinter der Tür auf uns wartete.
    Sänger! Er hatte absichtlich dafür gesorgt, dass uns niemand mehr in die Quere kam. Er hatte gewusst, dass wir hierher kommen würden!
    Konnte ich auch die Gedanken des Professors spüren, oder war das nur Wunschdenken? Entschlossen drückte ich die breite Türklinke herab. Das Zimmer war nicht verschlossen. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen: der Geruch des Alters, eines Körpers, dem fast schon ein Hauch des Grabes anhaftete.
    Der Tür gegenüber stand ein wuchtiger Schreibtisch.
    Eine altmodische Tischlampe mit grünem Glasschirm tauchte das Zimmer in gedämpftes Licht – der Strom war also doch nicht ausgefallen! Man hatte das Licht in den Fluren absichtlich ausgeschaltet.
    Hinter dem Schreibtisch thronte Sänger in einem großen Ledersessel. Als Ellen und ich den Raum betraten, klatschte er müden Beifall.
    »Fast wie in Mary Wollstonecraft Shelleys ›Frankenstein‹«, spottete er. »Das Monster stellt seinen Schöpfer zum Show-down.« Der Professor verzog seine schmalen Lippen zu seinem Sichellächeln. Seine Stimme klang seltsam undeutlich, so als spräche er mit einem Kaugummi im Mund. »Nur dass wir uns nicht im ewigen Eis begegnen. Der vollständige Titel ihres Romans ist übrigens ›Frankenstein oder Der moderne Prometheus‹.
    Wirklich ein bemerkenswertes Buch ... Du warst mein neuer Prometheus, Frank. Ich hatte geahnt, dass Rudolf und Manfred, die beiden Pfleger, dich nicht aufhalten könnten. Eher hatte ich da schon auf Judith gesetzt ... Aber es kommt, wie es wohl kommen musste.« Der alte Mann deutete auf zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.
    »Entschuldigt, ich vergesse meine Umgangsformen.
    Nehmt doch bitte Platz.«
    Ich war fest entschlossen, mich dieses Mal nicht von den Worten des Alten einlullen zu lassen, und richtete die Mündung des Schrotgewehrs auf den Professor.
    »Fühlst du dich jetzt wie der Held in irgendeinem billigen Hollywoodschinken?«, lächelte Sänger. »Du hast eine schöne Frau gerettet, der Schurke ist dir hilflos ausgeliefert, und es dauert nur noch wenige Augenblicke bis zum Abspann. Es fehlt nur noch, dass der Schurke seine Verbrechen bereut oder um sein Leben bettelt. Aber wenn du das von mir erwartest, muss ich dich leider enttäuschen.
    Was ich getan habe, habe ich aus Überzeugung getan. Wie ich schon sagte, Frank: Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß. Vielleicht wird man mich in ein paar Jahrzehnten als einen der größten Männer des zwanzigsten Jahrhunderts verehren. In einer Reihe mit Albert Einstein, dem Wegbereiter der Atombombe, was man ihm nie sonderlich nachgetragen hat, außer vielleicht in Hiroshima. Das Gleichgewicht des Schreckens hat der Welt ein halbes Jahrhundert relativen Friedens geschenkt. Der Friede, den ich bringe, wird länger anhalten, und er beruht nicht darauf, dass man der ganzen Welt mit dem Untergang droht.
    Und was den Tod angeht ...« Der Alte schüttelte den Kopf.
    »Mir ist seit vielen Jahren klar, dass ich den erfolgreichen Abschluss des Projekts Prometheus nicht erleben werde.
    Seitdem habe ich meinen Frieden mit dem Sensenmann.
    Ich freue mich über jede Stunde, die mir geschenkt wurde, aber ich bin seit langem bereit zu gehen.«
    »Warum Judith?«, presste ich hervor.
    Der Alte breitete die Hände aus und warf einen flüchtigen Blick auf eine Digitaluhr, die auf seinem Schreibtisch stand. Es war 13.45 Uhr. Ich wunderte mich ein wenig, dass es schon so spät war, aber dass ich mein Zeitgefühl verloren hatte, war eigentlich nichts Neues. Schließlich war ich seit Stunden nicht mehr in einem Zimmer gewesen, in dem es ein Fenster gab, geschweige denn an der frischen Luft.
    »Judith. Ich dachte, sie würde dir gefallen. Sie ist in eine Therapie gegangen. Der behandelnde Arzt hat dabei die Blockade gebrochen, die sie vor schlimmen Erinnerungen schützen sollte«, antwortete Sänger zynisch. »Sie kam

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