Nemesis 06 - Morgengrauen
nach.
Der Zorn und die Angst, oder was auch immer meine letzten Kraftreserven mit einem heftigen Adrenalinstoß mobilisiert hatte, ließen nach, und am liebsten hätte ich mich auf der Stelle auf die Marmorfliesen sinken lassen, um zu schlafen.
Ich spürte die verstohlenen Blicke des Pflegers auf mir ruhen. Ob er etwas bemerkt hatte? Den Mann zu manipulieren zehrte an meinen ohnehin äußerst spärlichen Kräften.
Dann erschieß ihn doch, meldete sich die jähzornige Kinderstimme in meinem Bewusstsein.
Tatsächlich krampften meine Hände sich um das Gewehr, doch ich zwang meinen Zeigefinger zur Distanz zum Abzug. Diese Stimme durfte nie mehr die Oberhand gewinnen! Ich war kein verdammter Mörder!
»Vorwärts«, sagte ich matt. »Ich ... Ich muss meine Tabletten nehmen ... In meinem Schreibtisch ...«
Wer so alt war wie Sänger, so hoffte ich, der musste bestimmt irgendwelche Tabletten nehmen: Zink, Eisen, Vitamin B und etwas gegen Blasenschwäche vielleicht.
Mit dieser Lüge konnte ich nicht viel falsch machen.
»Ich sollte wirklich einen Rollstuhl holen, Herr Professor. Sie sehen gar nicht gut aus.« Der hünenhafte Pfleger blickte sich um. »Warum kommt denn niemand, verdammt. Sie müssen uns doch gehört haben. Ich werde –«
»Nein, ich schaffe das schon!« Ich durfte nicht zulassen, dass der Kerl sich absetzte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie weit die Kraft reichte, mit der ich ihn beeinflusste. »Es geht schon wieder«, behauptete ich und stieß mich stöhnend von der Wand ab.
Ellen blickte mich fragend an, hütete sich aber, den Mund aufzumachen. In dem grünen Schein der Notbeleuchtung sah ihr Gesicht noch bleicher aus. Tiefe dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und ihr Nachthemd war nass vor Schweiß.
Zwei Krüppel auf der Flucht vor einer ganzen Armee aus Ärzten und Pflegern, dachte ich. Bei einem Fluchtversuch aus Alcatraz hätten unsere Chancen nicht schlechter gestanden.
Ich biss die Zähne zusammen und schleppte mich mühsam weiter. Irgendwann musste jemand uns finden.
Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen und konzentrierte mich darauf, dem Pfleger das Bild Sängers vorzugaukeln.
Was hatte von Thun erzählt? Dieser Messing, der Kerl, der Hitler auf die Idee gebracht hatte, das Projekt Prometheus anzuordnen – er war mit einem Zettel aus einem Schulheft in eine Bank gegangen und hatte dem Kassierer vorgegaukelt, er würde einen Barscheck zur Auszahlung einreichen. Das würde sicher heute noch funktionieren.
Man könnte wohl auch Leute manipulieren, die gerade vor einem Geldautomaten standen. Trotz aller Schmerzen und meiner Schwäche konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Nie mehr pleite, dachte ich. Wenn ich hier herauskam ...
»Herr Professor?« Die Stimme des Pflegers holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Was dachte ich da nur für einen Schrott! Ich musste mich zusammenreißen.
Und ich durfte die Gabe, die mir gegeben war, nicht missbrauchen. »Herr Professor!«
Ich wandte mich ungehalten zu dem Mann um. »Ja, zum Teufel, ich bin doch nicht taub!«
Der Hüne deutete auf eine schwere Holztür. Daneben hing ein Plexiglasschild an der Wand, auf dem PROF. DR. DR. SÄNGER geschrieben stand.
»Ihr Zimmer«, bemerkte der Kerl überflüssigerweise.
»Sie können jetzt gehen«, antwortete ich gereizt. Wenn der Pfleger verschwand, würde er bis ans Ende seiner Tage glauben, dass er den Professor zu seinem Büro geleitet hatte. Ich wusste, dass ich ihn loswerden musste. Meine Konzentration ließ immer mehr nach, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich einen Fehler machte und der Pfleger erkannte, wen er wirklich aus dem Krankenzimmer geholt hatte. Dann würde mir keine andere Wahl bleiben, als den Mann niederzuschießen.
»Sind Sie sicher?«, fragte er vorsichtig.
»Ich werde jetzt ein Glas Wasser trinken, meine Pillen nehmen und ein wenig verschnaufen«, antwortete ich.
»Dann wird es mir schon wieder besser gehen. Im Zweifelsfall habe ich ja auch noch Frau Doktor Bergmann bei mir. Sie sehen, ich bin in guten Händen.« Ich bemühte mich um einen freundlichen Tonfall, um alle Bedenken des Pflegers zu zerstreuen. »Gehen Sie jetzt wieder Ihrer Arbeit nach. Sie haben mir sehr geholfen, aber ich komme jetzt wirklich wieder allein zurecht. Ich gehöre ja schließlich noch lange nicht zum alten Eisen.«
Ich lachte gezwungen. In meinen Ohren hörte es sich schal und falsch an. Den letzten, anbiedernden Spruch hätte ich mir wohl besser
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