Nemesis 06 - Morgengrauen
meinen Ohren, begleitet vom Herzschlag der beiden anderen. Ich konnte das Blut in meinen Adern rauschen hören, außerdem ein gluckerndes Geräusch in den Gedärmen des Pflegers und ein wenig weiter vorne das leise Summen der Notbeleuchtung. All das waren Klänge, die ich mit normalen Sinnen niemals wahrgenommen hätte. Was auch immer geschehen mochte, wer auch immer mich überraschen wollte, der musste schon mehr draufhaben, als nur den Lichtschalter anzuknipsen. Beklemmt realisierte ich, dass ich mich ein bisschen auf die Auseinandersetzung freute, ja, einen Kampf regelrecht herbeisehnte. Ich schämte mich für dieses Gefühl.
Nach wenigen Metern machte der Flur einen scharfen Knick und endete schließlich vor einer doppelflügligen Tür. Sie besaß einen massiven Rahmen, und die kleinen Glasfenster, die in sie eingelassen waren, waren durch Drahtgeflechte verstärkt worden.
Der Hüne drückte auf einen breiten Schalter an der Wand, aber nichts geschah. Mit einem unwilligen Murmeln wiederholte er seine Bewegung, aber die Tür blieb verschlossen.
»Das verstehe ich nicht«, stammelte der Pfleger. »So etwas ist noch nie passiert.«
»Was ist daran ungewöhnlich, dass elektrische Türöffner bei einem Stromausfall nicht funktionieren?«, versetzte ich barsch. Insgeheim aber war allerdings auch ich davon überzeugt, dass man die Türen mit voller Absicht blockiert hatte.
»Der Professor hat völlig Recht«, setzte Ellen nun nach.
»Es ist folgerichtig, wenn die Türen unter diesen Umständen nicht funktionieren.«
Mir polterte ein Stein vom Herzen. Offensichtlich hatte die Chirurgin begriffen, was hier vorging.
Der Hüne stieß mit dem Fuß gegen die Tür, aber nichts rührte sich. »Also doch verschlossen«, sagte er, und in seiner Stimme klang deutlich mehr als nur eine Spur von Triumph mit.
»Schießen Sie die Tür auf«, befahl ich.
»Was?« Der Pfleger wirkte völlig verdattert. »Ich kann doch nicht einfach –«
Entnervt entriss ich ihm das Gewehr und zog Ellen und ihn ein Stück weit von der Tür weg. Dann legte ich an und schoss auf das Schloss. Glas splitterte. Der schwere Schrot zerfetzte Metallbeschläge und Plastik. Ein Splitter schrammte durch mein Gesicht. Dort, wo gerade noch das Schloss gewesen war, klaffte nun ein ausgefranstes Loch in der Tür.
Der Rückschlag des Gewehrs hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass ich gegen die Wand taumelte und brennender Schmerz durch meine Schulter pochte, wo die Kugel aus Carls Waffe mich getroffen hatte. Einen kurzen Moment lang tanzten grelle Lichtpunkte vor meinen Augen, und der beißende Pulvergeruch nahm mir beinahe den Atem.
Trotzdem lud ich im Reflex nach. »Machen Sie die Tür auf«, keuchte ich.
Der Hüne versuchte erneut sein Glück, und dieses Mal ließ sich zumindest einer der Flügel aufschieben. Der andere war offensichtlich durch Metallstifte gesichert, die sich in Boden und Decke geschoben hatten.
Blinzelnd spähte ich in das Zwielicht hinter der Tür. Der Gang hatte dort eine andere Farbe: Die Wände waren in einem warmen Gelbton gestrichen, und hier gab es sie tatsächlich, die Kalenderbilder in den billigen Wechselrahmen, die ich auf den Fluren, die ich bislang gesehen hatte, nahezu vermisst hatte.
Ich rechnete damit, spätestens jetzt jede Sekunde auf Widerstand zu stoßen, denn der Schuss war vermutlich im ganzen Komplex zu hören gewesen.
Selbst wenn es tatsächlich einen Stromausfall gegeben hatte und deshalb die Überwachungskameras nicht mehr funktionierten, würde jetzt jeder wissen, wo wir waren.
Sekunden verstrichen wie Äonen. Nichts war zu hören.
Der Gang vor uns war wie ausgestorben.
»Da stimmt etwas nicht«, flüsterte der Pfleger.
Warum muss ich eigentlich immer von solchen Intelligenzbestien umgeben sein, dachte ich bei mir. Erst Carl, und jetzt diese Blende. »Vorwärts«, befahl ich und trat entschlossen durch die Tür.
Wir gingen den Gang hinab und passierten zwei Aufzüge. Auf den polierten Stahlplatten der Schalttafeln spiegelte sich das grüne Licht der Notbeleuchtung wider.
Wo auch immer wir hier gelandet waren – von hier aus ging es nur noch nach oben.
TG stand auf einem der Schalter. Ich drückte darauf, aber nichts geschah. Aber es gab eine Stahltür unmittelbar neben den Aufzügen, die vermutlich zum Treppenhaus führte. Ich wollte darauf zusteuern, lehnte mich stattdessen aber einen weiteren Augenblick an die Wand, um kurz zu verschnaufen. Meine Kräfte ließen immer stärker
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