Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
dass er mich durch seine Sonnenbrille mit den Augen löcherte. Es dauerte, bis ich ihn erkannte.
Es war Marlon, und er lächelte. Hinter ihm rappelte sich Friedrich auf. Er hielt sich die Hand vor die Augen. Meine Sonnenbrille war im Haus. Ich war so viel Tageslicht nicht mehr gewohnt.
Ich erbarmte mich und drehte Friedrich den Rücken zu.
»Können wir reinkommen?« fragte Marlon.
»Hab ich euch eingeladen?« Ich stand immer noch mit dem Rücken zu ihnen. »Woher habt ihr meine Adresse?«
»Teilnehmerliste«, piepste Friedrich.
Auf der Kommode im Flur lag eine meiner Brillen. Ich setzte sie auf und drehte mich zu ihnen.
»Was wollt ihr?«
»Du bist gestern nicht zum Treffen gekommen«, sagte Marlon.
»Natürlich nicht.«
»Du fehlst aber.«
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Es konnte nicht sein, dass Marlon das tatsächlich gesagt hatte. Also wartete ich, dass er noch etwas hinzufügte. Aber er schwieg, und es war klar, dass er nicht vorhatte, damit einfach so aufzuhören. Ich verlor als Erster die Geduld.
»Wem? Dir? Oder etwa dir, Friedrich?«
Marlon machte wieder diese knappe Kinnbewegung, die mehr sagte als tausend Worte. Muss ich mir merken, dachte ich.
»Der Gruppe. Jetzt mach kein Theater und lass uns rein.«
Ich konnte kaum glauben, dass sie wirklich da waren. Es waren schon so lange keine Leute mehr da gewesen. Die letzten 389 Tage fühlten sich nicht nach einem Jahr und einem Monat an, auch nicht nach zehn Jahren. 389 Tage waren eine Zeit irgendwo zwischen einem Wimpernschlag und der Unendlichkeit.
Ich hatte niemanden vermisst, und die beiden erst recht nicht. Sie saßen jetzt trotzdem an unserem Küchentisch, und Friedrich glotzte sich die Kulleraugen aus dem Kopf. Fast konnte ich hören, wie es in seinem Kopf ratterte. Er registrierte alles, den Gasherd, das Muster der Geschirrhandtücher, Claudias abartige Pflanzen in den Töpfen mit Hydrokultur, das Regal mit den aufgereihten Gewürzen und die kostbaren antiquarischen Teedosen, die aussahen, als wären sie vom Sperrmüll. Am liebsten hätte ich einen Vorhang vor all das gezogen. Oder, noch lieber, die beiden rausgeworfen.
Genau wie Claudia fingen sie zuerst mit Lügen an, und genau wie sie konnten sie es nicht lange durchhalten. Keine Ahnung, warum so viele Menschen das für eine gute Strategie hielten. Sie erzählten etwas von einem besonderen Projekt, das der Guru mit uns vorhatte. Ohne mich ginge es angeblich überhaupt nicht.
Ich tat nur so, als würde ich zuhören. In Wirklichkeit versuchte ich mir vorzustellen, wie Friedrich von innen aussah. Eine Schilddrüse, die sich auflöste. Erschöpfte Nebennieren, die den Dienst versagten. Chronisch entzündete Leber durch die lebenslange Medikamenteneinnahme. Juvenile Arthritis. Verschrumpelte Nieren. Hohe Blutzuckerwerte. Ich war versucht, den Pschyrembel zu holen und ein paar Dinge nachzuschlagen.
Sie deuteten mein Schweigen offenbar falsch – nun wechselten sie die Strategie.
»Und Janne hat nach dir gefragt«, bemerkte Marlon betont beiläufig. Er saß neben Friedrich und bewegte seine riesigen nackten Füße über die Küchenfliesen. Immer wieder, ununterbrochen, hin und her. Ich hatte sie erst reingelassen, als sie die Schuhe ausgezogen hatten. Das war immer eine gute Möglichkeit, Gäste zu demütigen. Hausschlappen hatten sie abgelehnt. Ich guckte auf Marlons Füße und fragte mich, ob er sich die Fußnägel selbst schnitt und feilte, und wenn nicht, wer es dann für ihn tat. Marlons Hand streichelte die Tischplatte, der Ärmel schabte kaum hörbar drüber. Es machte mich wahnsinnig.
»Janne«, wiederholte ich. Sie nickten. Friedrich rätselte vermutlich gerade, ob die Grimasse in meinem Gesicht ein Lächeln sein sollte. Ich überlegte, ob sie wussten, womit Janne sich so die Zeit vertrieb. Ob sie auch schon mal auf die Idee gekommen waren, ihren Namen zu googeln.
Und dann zog Marlon etwas aus der Hosentasche und legte es auf den Tisch. Es war grün, flach und rechteckig. Ich blinzelte, dann streckte ich die Hand danach aus.
Ein Hunderter.
»Was soll das?« fragte ich.
»Vergiss den Scheiß, den wir erzählt haben«, sagte Marlon. »Du kommst, weil du dafür bezahlt wirst. Betrachte es als Arbeit. Es ist halt wichtig.«
Ich nahm den Schein zwischen zwei Finger, hielt ihn mir ans Ohr. Das Knistern gefiel mir.
»Ist nicht gerade viel«, sagte ich. »Was muss ich dafür tun? Und wer zahlt überhaupt?«
Es entstand eine Pause, in der ich noch ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher