Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
Dessen Bretter biegen sich unter ihrer Last. Einige Sekunden gleitet Sarahs Blick über die Buchrücken, dann wendet sie sich meinem Klavier zu. Es ist ein älteres Modell, klassisch schwarz. Darüber hängen Fotos – sehr viele Schwarz-Weiß-Aufnahmen unterschiedlicher Größe.
Sie zeigen Menschen verschiedenster Herkunft, alte und junge, Frauen, Männer und Kinder. Dazwischen hängen Landschaftsaufnahmen und Bilder diverser Stadtszenen.
»Stilvoll!«, sagt Sarah, scheint aber kurz darauf schon hinter das Geheimnis dieser Fotos zu kommen. Sie deutet auf das Bild einer Frau vor der malerischen Kulisse einer kleinen Meeresbucht. Die enorme Größe der Gläser der Sonnenbrille, mit der die Frau ihre Haare zurückhält, spricht für die Zeit, in der die Aufnahme entstand.
Ich weiß, warum Sarah ausgerechnet bei diesem Bild stutzig wird. Sie ist der Frau auf dem Foto nie begegnet, aber sie erkennt ihr Lachen, ihre Nase, ihre Wangenknochen. Das Bild zeigt meine Mutter. Es stammt aus unserer Zeit in Italien.
»Meine Mom!«, sage ich, vermutlich nur einen Augenblick, bevor sie zu fragen wagt.
»Das sind private Aufnahmen?«, hakt Sarah ungläubig nach. »Ben, die sind … wunderschön.« Nun betrachtet sie auch die anderen Fotos genau.
Das Bild neben dem von meiner Mom zeigt nur den Ausschnitt eines Gesichtes. Nur Augen, die meinen sehr ähneln. »Dein Dad?«, fragt sie.
»Teile von ihm!«, gebe ich schmunzelnd zurück.
Sie hat sich schon wieder umgedreht. »Ja, unverkennbare Teile von ihm. Ihr beide habt genau die gleichen Augen.« Schon gleitet ihr Blick weiter, über chinesische Pagoden und junge Inderinnen. Über einen südafrikanischen Sonnenuntergang und die ihr wohlbekannten Londoner Taxis und Pubs. Sie erfasst enge Gassen, über die sich schwer behangene Wäscheleinen spannen, betrachtet ausgiebig den Hintereingang eines kleinen Theaters; eine junge Frau, die sich mit einem dicken Pinsel die Wangen pudert … und vieles mehr.
Zwischen diesen Motiven hängt ein weiteres Portrait, das Sarah offenbar besonders ins Auge sticht.
Es zeigt einen dunkelhaarigen Mann mit Strohhut. Die rauhe Arbeiterhand liegt, wie zum Gruß, an der Krempe seines Hutes. Er kaut auf einem trockenen Grashalm und grinst dabei ein wenig schief in die Kamera.
Jedes Mal, wenn ich dieses Bild bewusst betrachte, treibt es mir ein Schmunzeln ins Gesicht. Dann höre ich die dazugehörige rauhe Stimme und sein schallendes Lachen.
Ich schiebe die Bücher auf dem Couchtisch mit der Kante des Tabletts zur Seite und stelle es ab.
»Total gemütlich, deine Wohnung«, bekräftigt Sarah noch einmal.
Ich kratze verlegen meinen Nacken. Mit den Ausmaßen ihrer Villa im Kopf kommt mir mein Appartement … nun ja …
mickrig
vor.
»Es reicht für Jack und mich. Der große Garten ist für ihn wichtig, weißt du? Außerdem haben wir hier absolute Ruhe, denn die Wohnung über uns ist eine Ferienwohnung, und ich habe dort noch nie jemanden gesehen. Außer meinem Schlafzimmer gibt es noch zwei weitere Räume und ein Bad. Meine Schwester und ihr Mann kommen häufig zu Besuch. Die Kids hassen Hotels.«
Sarah bringt ein mildes Lächeln zustande.
»Kann ich mir vorstellen. Josie schläft auch nicht gerne in Hotels.«
Dann deutet sie auf ein weiteres Bild an meiner Wand. »Sind sie das, die Kinder deiner Schwester?«
Ich folge ihrem ausgestreckten Zeigefinger und muss schmunzeln. Das Bild zeigt die Nahaufnahme zweier lachender Kinder.
»Nein, das sind Caro und ich. Das war in England, glaube ich … warte … das hier …«
Ich zeige auf das Foto eines nackten Babyfüßchens, dessen winzige Sohle gerade von einem gespitzten Kindermund geküsst wird.
»… das ist der Mund meines Neffen, und der Fuß gehört zu meiner kleinen Nichte.«
Sarah grinst. Dann greift sie nach meiner Hand und drückt sie. »Wunderschön, Ben! Die Sammlung ist umwerfend. Auch dieses Bild hier…« Sie reckt sich auf die Zehenspitzen, stützt sich auf dem Klavier ab und deutet hoch oben an der Wand auf das Bild des Mannes mit dem breitkrempigen Strohhut. »Das ist fantastisch!«
Ich bin unglaublich dankbar, dass Sarah in meiner Fotowand eine kleine Ablenkung gefunden hat. In der Hoffnung, dass die noch lange anhält, lehne ich mich ebenfalls über das Klavier, nehme das Bild von der Wand und reiche es ihr.
»Meine Mutter hat es gemacht, wie die meisten dieser Aufnahmen. Fotografie ist bis jetzt eines ihrer größten Hobbys. Das hier …«, ich klopfe auf das Glas des Bildes
Weitere Kostenlose Bücher