Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
so dumm sein, Dan? An einem Flussufer, ich bitte dich!
Warum hast du es mir nicht erzählt, dann hätten wir das sauber klären können. Jetzt zerreißt sich die halbe Welt das Maul über unsere privaten Angelegenheiten. Sie werden sich durch ihre fiesen kleinen Archive wühlen, schnell auf Bilder von Madelaine und mir in London stoßen und die ›guten alten Zeiten‹ gegen die schlechten von heute stellen. Wie bitte?… Nein, ich werde mich
nicht
beruhigen, und schon gar nicht werde ich versuchen, dich zu verstehen. Du spinnst doch, Herrgott noch mal! Was redest du da überhaupt?«
Pause!
Sie stützt die Stirn in ihre Hand, fährt sich mit zittrigen Fingerspitzen über die geschlossenen Augenlider. »Es tut mir bloß um jede Sekunde leid, Daniel. Um jede gottverdammte Sekunde, die ich hier auf dich gewartet habe«, sagt sie ziemlich leise.
Ich fühle mich unwohl. Dieses Gespräch ist so intim, dass ich das Gefühl nicht loswerde, unerlaubterweise zu lauschen. Ich bin froh, als sich Jack, der bisher still auf der Rückbank saß, zwischen den Frontsitzen durchquetscht und über die Mittelkonsole zurück auf meinen Schoß klettert, um sich weiter kraulen zu lassen.
Mit einem Mal richtet sich Sarah auf. Kerzengerade sitzt sie nun wieder da; ihr Gesicht ist eine Maske aus Fassung und Stolz.
»Eine Woche Daniel, ich meine es ernst. Ich bestelle den Container für kommenden Montag.« Mit diesen Worten beendet sie das Gespräch.
Sprachlos sehe ich sie an.
Tabula rasa … das war eine deutliche Ansage. Ernst gemeint oder nicht, das kann ich noch nicht so genau ausmachen. Auf jeden Fall ernst genug, um sich den Respekt zu verschaffen, den sie verdient hat.
Aufrecht und stark sitzt sie neben mir; ihr Atem geht tief und regelmäßig.
Doch binnen Sekunden zerbirst das Bild dieser selbstbewussten Frau in tausend kleine Mosaiksteinchen. Mit einem herzzerreißenden Seufzer sackt Sarah erneut in sich zusammen und lässt die Tränen nun ungehindert fließen. Mit starrem Blick scheint sie ihrem vergangenen Glück nachzuschauen.
In meiner Hilflosigkeit springe ich aus dem Wagen und öffne ihre Tür.
»Komm her«, fordere ich leise und reiche ihr meine Hand. »Lass dir vom Wind helfen.«
»Vom Wind?«, schluchzt sie, ergreift aber im selben Moment schon meine Hand. Sie kann nur noch sehr schwer atmen. Mit verzerrtem Gesicht presst sie die freie Hand gegen ihre Brust. Ich weiß, wie weh es tut. Kenne dieses Gefühl, etwas Schweres, Hartes läge direkt auf deinem Herzen. »Was weiß der Wind denn schon?«, presst sie hervor.
Ich ziehe sie von ihrem Sitz in meine Arme. Die Zurückhaltung der vergangenen Wochen, die unseren Alltag nach dieser Nacht im
›Pure‹
beherrscht hatte, ist vorerst vergessen. »Der Wind weiß eine Menge«, behaupte ich. »Er … er zeigt dir neue Wege.«
Sarah schweigt.
Was mich herausfordert fortzufahren. »Stell dir eine lange Straße vor. Der Wind pfeift hindurch, mit voller Kraft. Doch dann, als er auf ein Hindernis stößt, teilt er sich, verästelt seinen Strom und sucht sich neue Wege. Und wenn das Hindernis überwunden ist, führen all seine Arme wieder zusammen und preschen gemeinsam über die breite Straße – viel stärker als zuvor.«
Vom Weinen sind Sarahs Augen rot und geschwollen. Die dunklen Schlieren ziehen sich mittlerweile über die blassen Wangen, bis hinunter zu ihrem Kinn, und ihre Nase läuft unaufhörlich. Doch als der Wind – wie zur Bestätigung meiner Worte – für einige Sekunden durch ihr offenes Haar weht und sie dabei zu mir aufblickt, als hätte ich das Meer für sie geteilt … ich schwöre, ich habe schon lange nichts Schöneres gesehen.
»Komm!«, sage ich und ziehe sie mit mir.
Schweigend stapfen wir über die klobigen, abgeschliffenen Felsen hinab zum Strand. Der Sand unter unseren Schuhen ist fein und weich.
Zu fein und weich für die grobe Härte, die dieser Morgen gebracht hat
.
Langsam gehen wir bis zur Brandung vor. Sarah bückt sich, hebt ein Stück angespültes Treibholz auf und wirft es so weit sie kann in die Wellen hinaus. Wie ein Pfeil schießt Jack hinterher.
Sarah sieht ihm nach und setzt sich dabei in den leicht feuchten Sand.
Ich stelle mich hinter sie und warte mit einem mulmigen Gefühl, was nun passieren wird. Gedankenverloren lege ich meine Hand auf ihre Schulter und drücke sie sanft. Bevor ich sie zurückziehen kann, greift Sarah danach und zieht sie nach vorne, zu ihrem Mund. Sie drückt ihre Lippen gegen meinen Handrücken und
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