Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
jede Menge Platz. Ich bin leer. Völlig leer.
Ich sehne mich sogar nach meinem Auftritt, denn dann kann ich endlich wieder abtauchen. Auf der Bühne, solange ich jemand anders sein darf, spüre ich das Leben in mir.
Ich setze mich auf den Hocker vor das Piano und streiche dabei meinen Smoking glatt. Marc setzt sich neben mich und wartet geduldig, bis ich so weit bin.
Dass ausgerechnet Randys Freund die Musik zu diesem Stück geschrieben hat, erscheint mir nach wie vor wie ein unglaublicher Zufall. Sicher wusste ich, dass Marc für ein Theaterstück komponierte. Genauso wie er wusste, dass ich mich nach der Absetzung von
›Das Leben in meinem Sinn‹
für keine weitere Fernseh- oder Filmproduktion verpflichten ließ.
Dennoch ging ich am 02. April vollkommen ahnungslos zum Casting und traute meinen Augen kaum, als ich Marc dort direkt neben dem Regisseur erspähte.
Ich rolle meinen Kopf hin und her, lockere meinen Nacken und berühre dann endlich die Tasten. Mit geschlossenen Augen beginne ich zu spielen. Die Noten brauche ich schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses und die vier anderen Stücke aus
›Der einsame Pianist‹
schon gespielt habe, aber mit jedem Mal klingen die Melodien noch schöner in meinen Ohren.
Marc geht in seinen Bewegungen mit meinem Spiel mit, als würde er selbst spielen. Er sagt kein Wort, denn das muss er nicht mehr.
Nach dem anfänglichen Erfolg von
›Das Leben in meinem Sinn‹
schoss Marcs Karriere steil nach oben. So hat er inzwischen den kompletten Soundtrack zu einem unabhängigen Film geschrieben und die Verträge für ein Musical unterzeichnet, das im kommenden Frühjahr am Broadway Premiere feiern wird. Marc pendelt momentan ständig zwischen New York und Los Angeles hin und her.
Randy arbeitet an einem Kinofilm. Die Vorbereitungen zu den ersten Dreharbeiten laufen bereits auf Hochtouren. Marc und er sehen sich derzeit nur selten, aber ihre Beziehung ist so intakt, wie nur irgendetwas intakt sein kann. Das Glück der beiden beweist mir Tag für Tag, dass sich Sarahs Einwände und Befürchtungen nicht hätten bewahrheiten müssen.
Randy wird heute Abend, zur Feier der Premiere, im Publikum sitzen. Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen, denn unsere letzte Begegnung liegt schon etliche Wochen zurück.
Der Schlussakkord verklingt unter meinen Händen. »Das war sehr gut«, lobt Marc. »Du spielst es viel besser als ich. Also, Hals- und Beinbruch, Ben!«
»Drei Minuten noch!«, ruft die Regieassistentin von draußen und klopft dabei an die Tür.
Maggie, die mir sogar bis ins Theater gefolgt ist, stürmt in den Raum und pudert noch einmal über meine Stirn. »Hals- und Beinbruch!«, wünscht auch sie mir und spuckt – nur angedeutet natürlich – dreimal über meine linke Schulter, bevor sie meine Wangen küsst.
Ich schenke ihr ein Lächeln und erhebe mich. Langsam und konzentriert steige ich die Stufen hinauf, die mich direkt hinter die Bühne führen. Ich gehe an den Lichttechnikern, Requisiteuren und anderen Schauspielern vorbei. Mit gedämpften Stimmen wünschen wir uns gegenseitig Glück.
Nur der schwere Vorhang und die dünnen Holzwände des Bühnenbilds trennen uns nun noch von den Zuschauern im Saal. Die haben bereits ihre Plätze eingenommen. Es ist ausverkauft. Ein erster Erfolg, der zugleich den Druck steigert, eine Glanzleistung abzuliefern.
Das Gemurmel des Publikums zeigt mir, dass das Deckenlicht im Zuschauerraum noch nicht gedimmt wurde. Ein Tontechniker bestückt die Sender mit frischen Akkus und überprüft den Sitz der Mikros. Mit meinem ist er nicht zufrieden. Eine Assistentin befestigt es mit Sicherheitsnadeln zusätzlich am Kragen meines Fracks. Den Sender steckt sie an meinem Hosenbund fest. Ich überprüfe, indem ich die Arme hebe und den Oberkörper hin- und herdrehe, ob mir die Kabel, die sie auf meiner Brust verklebt hat, ausreichend Bewegungsfreiheit lassen. Alles in Ordnung, ein kurzes Nicken.
Die Assistentin klopft mir auf die Schulter und wendet sich ab. Einige Schritte weiter reicht man mir ein Tuch, mit dem ich mir die Hände trockenreibe. Dann bekomme ich ein Glas mit Wasser, um meine Kehle zu befeuchten. Ich nehme einen Schluck und räuspere mich. In diesem Moment leuchtet ein rotes Licht über dem Zugang zur Bühne auf. Die Geräusche aus dem Zuschauerraum werden schlagartig leiser und verstummen kurz darauf völlig. Ich trete währenddessen leise auf die Bühne vor, nehme den Platz und die entsprechende Haltung
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