Neobooks - Entbehrlich: Thriller (German Edition)
Mädchen dagegen war trotz ihrer Größe und Masse eine geborene Tänzerin. Tanzen war für sie anstrengungslose Instinkthandlung. Sie tanzte nicht nur technisch perfekt, sie glühte geradezu vor Bewegungsdrang und Begeisterung. Trotzdem hielt sie sich zurück, fest entschlossen, ihren gerade gewonnenen Partner nicht zu überfordern und damit zu vergraulen. Sie hielt ihn bei Laune, indem sie unmissverständlich demonstrierte, dass sie Spaß mit ihm hatte, und überging großzügig seine kleinen Ungeschicklichkeiten. Sie ist klug, dachte Ross, sie nimmt den Jungen mit, sie lässt ihn gut aussehen, vor sich selbst und vor den Leuten. Dafür wird er ihr aus der Hand fressen.
In der ersten Pause zwischen den Musiktiteln applaudierten und pfiffen die Freunde des Jungen scherzhaft, und ein paar Leute, die am Rande der Tanzfläche saßen, schlossen sich an. Das Mädchen knickste lachend, bevor die Musik wieder einsetzte. Beim dritten oder vierten Musikstück erschien ein zweites Paar auf der kleinen Tanzfläche, und dann immer mehr Leute, bis von ihr und dem Jungen nur noch die Köpfe zu sehen waren.
Ross zog auf einen der letzten freien Plätze am Tresen um. Irgendwann kam das Mädchen vorbei, fischte eine Zigarette aus ihrer Tasche, die er immer noch hütete, und nahm ihr Glas mit zu dem Tisch am Fenster, wo man für sie zusammengerückt war. Er sah ihr noch nach, als sich eine Frau zwischen ihn und seinen Nachbarn an den Tresen drängte und dabei fast sein Glas umstieß. Ross sagte zu ihrem Hinterkopf: »Hey, aufpassen.«
Sie drehte sich um und stand direkt vor ihm, zu nah für sein Empfinden. Er erkannte sie. Sie war ihm an einem der Tische aufgefallen, an dem sie mit einer Freundin saß. Sie sagte etwas und lächelte entschuldigend. Er lächelte zurück. »Ich spreche kein Französisch, Baby.«
Sie gefiel Ross. Sie sah gut aus, auf eine etwas strenge Art vielleicht, und sie war nicht mehr ganz jung. Ende dreißig oder vielleicht schon so alt wie er selbst, schätzte er. Sie hatte schönes, dunkles Haar. Sie lachte und sagte: »Aber ich verstehe Englisch, Baby.«
»Oh. Nichts für ungut. Ich wollte nicht respektlos sein.«
»Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich habe fast Ihren Drink umgeworfen. Ich bin Denise.«
»Hi, Denise. Freut mich. Walter.«
»Allô, Voltaire. Sie sind Amerikaner, nicht wahr?«
»Sieht man mir das an?«
»Man hört es. Sind Sie ein Freund von Leo?«
Leo? Der Barmann?
»Nicht? Warum sonst sollte sich ein Amerikaner in die französische Provinz verirren?«
Warum fragte sie? Ross dachte, sie hat mich doch zusammen mit dem Mädchen gesehen. Wurde er gerade angebaggert? Er sagte: »Ich bin mehr oder weniger beruflich hier.«
Sie sah zur Tanzfläche. »Ach ja, la fille spectaculaire. Ich mag die Musik hier«, fuhr sie fort und ersparte ihm die Frage, warum sie hier war. »Das Leo’s ist der letzte Club in dieser Stadt, in dem nicht nur noch hasserfüllt gerappt wird oder diese monotone Maschinenmusik läuft.«
»Ist das so? Dann ist es gut, dass ich gleich hierhergefunden habe.«
»Ja, nicht wahr?« Sie blickte an ihm vorbei in den Raum. »Wissen Sie, wenn wir schon das gleiche mögen und hier fast die einzigen erwachsenen Menschen sind, vielleicht setzen Sie sich zu uns, Walter, es würde mich freuen.«
»Vielen Dank. Aber …«
»Ja, klar. Aber falls Sie Ihre Meinung noch ändern …«
»Ja, dann gerne.«
Also doch. Schnell und direkt. Gibt es eigentlich keine schüchternen Frauen mehr? Ross blickte ihr nach. Irgendwie passte sie nicht ins Leo’s. Er stellte sie sich in einem Kleid vor, in einer Galerie oder einem Theaterfoyer. Abgesehen von den Haaren ähnelte sie Carol. Was mochten solche Frauen an ihm?
Und nun, wie weiter? Er war begutachtet worden, und sie hatte sich präsentiert. Wenn er sich zu ihr setzte, überlegte er, würde die gegenseitige Prüfung in die zweite Runde gehen: Ist er/sie diskret und höflich, sauber und gesund, nicht zu langweilig, zu eitel, nicht irgendwie pervers oder gewalttätig, ist er/sie erfahren, aufmerksam und selbstlos genug für halbwegs guten Sex … und so weiter. Entsprach er auch bei näherer Betrachtung noch ihren Vorstellungen, würde sich die Freundin bald unter einem Vorwand verabschieden, und das Gespräch würde zunehmend persönlicher. Irgendwann käme der Aufbruch und der heikle Moment der Einladung. Er würde ihr die Initiative überlassen, denn sie wirkte wie eine Frau, die ihre Entscheidungen gern selbst traf. Er würde mit
Weitere Kostenlose Bücher