Neobooks - Entbehrlich: Thriller (German Edition)
Gegend zu verschwinden.«
»Und Frauen?«
»Wenn man alt genug ist, geht man zu den Huren, bis man heiratet. Wenn man lange genug verheiratet ist, geht man wieder zu den Huren. Jedenfalls war das damals so.«
»Waren Sie auch bei den Huren?«
»Nein. Bevor ich alt genug war, war ich weg.«
»Ihr Vater?«
»Keine Ahnung.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Nein.« Erst hatte Ross’ Vater das hoch verschuldete Sägewerk am Pokertisch verloren, dann war er von einem Jagdausflug nicht zurückgekehrt und nie gefunden worden.
»Was ist mit Ihrer Mutter?«
»Sie ist auch tot.«
»Nein, ich meine, erzählen Sie von ihr.«
»Aber ich sage Ihnen doch, ich erinnere mich kaum.«
»An was erinnern Sie sich?«
»Sie war viel jünger als mein Vater. Ich glaube, sie war nicht seine erste Frau.«
Eine träge, früh verblühte Frau, die nach Parfüm und Zigaretten roch, nach Süßigkeiten und Brandy. Sie verließ ihr großes, heruntergekommenes Haus nur selten. Erst zuletzt, als sie Krebs hatte, ging sie regelmäßig zur Kirche. Bis dahin verbrachte sie die meiste Zeit am Radio und später vor dem Fernseher. Ross blieb einer Hausangestellten überlassen, einer robusten, unsentimentalen schwarzen Frau mit fünf eigenen Kindern. Von ihr erhielt er, gemeinsam mit den anderen, eine simple, unzweideutige Erziehung: (bohrt nicht in der Nase, wascht vor dem Essen die Hände und putzt morgens und abends die Zähne. Sagt Bitte und Danke; sagt ja, Sir und ja, Ma’am. Wer lügt, stiehlt oder flucht und wer an seinen Genitalien herumspielt, der kommt in die Hölle). Wenn seine Mutter vor dem Fernseher betrunken eingeschlafen war, schlich sich der kleine Walter ins Zimmer und setzte sich in ihre Nähe.
»Und?«
Ross zuckte die Schultern.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass Sie nicht mehr Erinnerungen an Ihre Mutter haben.«
Ross sagte: »Ich erinnere mich auch nicht mehr, wie meine Frau aussah«, als würde das etwas beweisen.
»Ihre Frau?« Jetzt schien sie überrascht. »Sind Sie … Wie lange haben Sie sie nicht gesehen?«
»Vier Jahre.«
»Haben Sie denn keine Bilder von ihr?«
»Doch. Wenn ich mir Bilder meiner Frau ansehe, dann erinnere ich mich an die Bilder meiner Frau, aber meine Frau, meine wirkliche Frau, verschwindet hinter den Bildern.«
Sie legte den Kopf zurück und atmete Rauch aus. Dann sagte sie: »Wissen Sie, was Abspaltung ist?«
»Nein«, log er.
»Haben Sie sich schon einmal hypnotisieren lassen?«
»Nein. Um verschüttete Kindheitserinnerungen freizulegen? Kann sein, dass ich mich nicht klar ausgedrückt habe, aber es macht mir nichts aus, dass ich mich kaum an meine Kindheit erinnere.«
Sie sah auf ihre Uhr und drückte dann die Zigarette aus. War das Gespräch zu Ende? Ross wollte noch nicht zurück in seine Zelle. »Kindheit wird überschätzt«, sagte er. »Glauben Sie wirklich, dass wir in den ersten drei oder zehn oder zwölf Jahren unveränderlich geformt werden, für den Rest unseres Lebens? Dass in den sechzig oder siebzig Jahren danach nichts mehr in uns passiert?«
»Nein. Aber so ist das auch nicht gemeint mit der Kindheit. Sie hatten schon oft mit Psychologen zu tun, nicht wahr?«
»Beim Militär. Und als Polizist.«
»Und dabei haben Sie gelernt, sich rauszureden«, sagte sie. Sie sprach gelassen und ein wenig ironisch, aber Ross glaubte, dass sie ärgerlich oder ungeduldig war. »Diese ganze Geschichte mit der fehlenden Erinnerung«, fuhr sie fort, »das ist doch bullshit, Walter. Sie verschwenden meine Zeit. Warum wollen Sie nicht kooperieren? Was kann Ihnen denn schon passieren, wenn Sie mit mir reden? Es bleibt alles unter uns. Sehen Sie selbst, ich habe nichts dabei, kein Aufnahmegerät, kein Notizpapier, nichts. Kommen Sie«, sie lächelte ermunternd, »sprechen Sie mit mir, arbeiten Sie mit mir zusammen.«
Gleich würde sie ihm drohen oder versuchen, ihn zu ködern, indem sie ihm ein Treffen mit dem Mädchen versprach. Ross wartete nicht darauf. Er sagte: »Sie meinen, ich verschwende Ihre Zeit? Sie müssen verrückt sein. Ich werde illegal gefangen gehalten, ich werde zusammengeschlagen. Ich bin verdreckt und gefesselt. Jeder meint, dass ich ein Massenmörder bin, und Sie halten mich noch dazu für Ihre Laborratte. Sie haben recht, meine Situation kann nicht schlechter werden: Warum sollte ich also mit Ihnen zusammenarbeiten?«
Sie war nicht beeindruckt.
Ross sagte: »Ich will das Mädchen treffen.«
»Erst machen wir die Tests.«
»Nein.
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