Neongrüne Angst (German Edition)
würde diese Menschen nie verstehen. Das war für sie ein komisches Freizeitvergnügen. Genauso gut konnte man sich doch die Fingernägel mit einem Hammer blutig klopfen oder in eine zu heiße Badewanne steigen. Heringssalat essen, der zwei Wochen über dem Verfallsdatum war, oder Bungeejumping ohne Seil ausprobieren.
Sie ging fest entschlossen zur Kasse. Ich werde, dachte sie, wenn ich oben bin, nicht die Augen schließen. Im Gegenteil. Ich werde mir den Platz von hoch oben genau angucken. Wenn du mich siehst, dann werde ich dich auch sehen. Wenn ich erst weiß, wer du bist, verlierst du deine Macht über mich.
Ein Glück, dass Leon jetzt nicht da ist, dachte sie. Der würde alles nur verkomplizieren. Gleichzeitig wünschte sie sich nichts mehr, als bei ihm zu sein.
Vor ihr stieg eine Gruppe alkoholisierter junger Männer ein. Sie war froh, nicht in deren Wagen steigen zu müssen, sie nahm den nächsten.
Hinter ihr giggelte ein Pärchen verliebt. Er versprach, ihr die Hand zu halten, und sie behauptete, schon auf viel tolleren Achterbahnen gewesen zu sein, zum Beispiel in Orlando, Wien und Rust.
Er lachte: »In Wien? Das war bestimmt das Riesenrad!«
Die zwei taten Johanna gut. Neben ihr saß jetzt eine Dame Mitte vierzig. Sie war sehr nervös und winkte jemandem zu.
»Ich habe eine Wette verloren, und das hier ist der Preis, den ich Rindvieh zu zahlen habe«, sagte sie zu Johanna. Es klang wie eine Entschuldigung.
»Ich hab auch Schiss«, gab Johanna zu, und die zwei sahen sich verständnisvoll an. Dann legte sich ein Sicherheitsbügel über ihre Beine, und sie begriffen beide, dass es zu spät war auszusteigen.
Die Jungs im Wagen vor ihnen hoben die Arme zum Himmel und grölten: »Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!«
4
Leon drehte nicht um. Er wollte Gewissheit. Er wollte Johanna zur Rede stellen. Er ließ sich nicht verarschen. Er doch nicht.
Dieser blöde Aufschneider Tobias Zenk war hinter Johanna her. Das hatte Ben ihm gesteckt. Ein bisschen, weil es ihm Freude machte, den Freund seiner Schwester eifersüchtig zu sehen, aber ganz sicher auch, weil etwas Wahres dran war.
Für Ben hatten ohnehin alle Typen, die sich in seine Schwester verliebten, einen totalen Dachschaden.
Auf dem Weg zum Freimarkt spielte Leon durch, was er tun oder sagen würde, wenn er Johanna Arm in Arm mit einem anderen sehen sollte.
Nein, er würde dem Typen keine reinhauen. Er wollte einfach nur stillstehen und die beiden ansehen. Er hing insgeheim der Hoffnung nach, sie würde den anderen dann einfach stehenlassen, um zu ihm zu laufen. Er würde dann einen Arm um sie legen und mit ihr zum Auto gehen. Vielleicht würde er ihr noch ins Ohr flüstern: »Vergiss den Arsch, der ist es nicht wert.«
Er würde ihr keine Vorwürfe machen, sondern ihr zeigen, wie sehr er sie liebte. Aber dann kam alles ganz anders …
5
Als sie den Sicherheitsbügel fest auf ihren Beinen spürte, schoss ein übermächtiger Impuls in ihr hoch, jetzt sofort abzuhauen. Aber ein Mechanismus war arretiert und ließ sich nicht mehr lösen. Sie rüttelte an dem Bügel herum.
Die Dame neben ihr spürte den Anflug von Panik und versuchte, Johanna zu beruhigen: »Sei doch froh, dass das Ding so fest sitzt. Es sollte im Looping ja auch halten.«
Der Satz war wenig hilfreich. Jetzt wollte Johanna erst recht raus, doch der Wagen rollte vor.
Das »Jetzt geht’s los«-Gegröle der jungen Männer im Wagen vor ihnen wurde lauter.
War es einer von denen? Fuhr der Verehrer selbst mit? Versuchte er, ihr so nah zu sein?
Sie spürte ihren Herzschlag im Hals. Was mache ich hier, dachte sie. Bin ich komplett verrückt? Wer hat mich in diese Situation manövriert? Wie konnte das passieren? Warum ist Leon nicht bei mir, und wieso nicht mein Bruder Ben?
Sie fühlte sich einsam, dumm, im Stich gelassen, und die Fahrt begann mit einem Ruckeln von Zahnrädern, was ihr endgültig klarmachte: Jetzt gibt es kein Entkommen mehr!
Jetzt kannst du nur noch hoffen, dass das Ding nicht im Looping hängen bleibt oder abstürzt.
Längst vergessene uralte Bilder von Achterbahnunfällen tauchten aus der Tiefe ihrer Erinnerung auf und wurden zu einer Lawine, hinter der jeder klare Gedanke begraben wurde. Sie krampfte die Finger in die Gummierung der Sicherheitsrolle.
Es ging bergauf. Sie wurde in den Sitz gedrückt. Sie konnte von hier aus die Leute kreischen hören, die gegenüber bergab sausten. Sie waren ganz nah, als ob die Wagen aneinanderkrachen
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