Neongrüne Angst (German Edition)
geben, dann schwöre ich Ihnen bei Gott, ich werde kommen und sie bezahlen, aber ich habe heute überhaupt kein Geld. Man hat mich beklaut. Meine Ersparnisse sind weg, und ich hatte hundert Euro für diesen Anlass zurückgelegt …«
Er nickte wieder und wiederholte ihre Aussage: »Sie haben es also einerseits verpennt und andererseits sind Sie beklaut worden. Das nenne ich Duplizität der Ereignisse.«
»Ja, aber genauso ist es.«
»Und jetzt wollen Sie nicht ohne Geschenk zum Fest kommen.«
Sie nickte heftig und sah ihn flehentlich an.
Er wurde an seine Tochter erinnert, die er von Herzen liebte, und obwohl alle Alarmglocken in ihm schrillten, fragte er: »Können Sie irgendein Pfand hinterlegen?«
»Ja, mein, ähm … äh …« Sie kramte in ihrer Tasche. »Meinen Ausweis zum Beispiel.«
Er nickte. »Das reicht.«
Er nahm den Ausweis.
Sie schluckte: »Und wenn Sie mir noch einen letzten Gefallen tun könnten – mein Vater liebt diesen Likör … Altleher Hahnentritt …«
Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Der Verkäufer griff ins Regal, holte eine Flasche des Kräuterlikörs heraus und stellte sie auf den Verkaufstresen.
Johanna umarmte ihn vor Glück, dabei klirrten die Flaschen beängstigend laut gegeneinander. Sie küsste ihn auf die Wange.
Das Brautpaar lachte. Solche Kinder würden sie später auch mal haben, versprachen sie sich, und als Johanna mit Wein und Likör zur Tür jubilierte, rief ihr der Verkäufer nach: »Soll ich Ihnen die Flaschen nicht einpacken?«
Aber Johanna hatte es jetzt sehr eilig. »Nein, nein«, rief sie.
»Und tun Sie Ihren Eltern einen Gefallen, junge Frau! Ziehen Sie sich noch etwas anderes an!«
Johanna sah an sich runter. Dann nickte sie. »Ja, ja, versprochen. Ganz bestimmt.«
Der türkische Junge stand noch immer auf der anderen Straßenseite und hielt sein iPhone verdächtig auf den Laden und damit auf Johanna gerichtet.
54
Eine Baustelle auf der A 27 verursachte im Feierabendverkehr einen kilometerlangen Stau, der Leon gut eine Viertelstunde kostete. Es ging nur schrittweise vorwärts. Er versuchte, die verlorene Zeit mit erhöhtem Tempo rauszuholen, aber sah schon jetzt seine Chancen auf ein intensives Gespräch mit Johanna schwinden.
Früher, dachte er, wäre ich in so einer Situation ins Eis eingebrochen.
Es war ihm schon lange nicht mehr passiert und selbst jetzt, als es ihm im Stau nicht schnell genug vorwärtsging und er das Gefühl hatte, in einer Zwickmühle zu stecken, entweder Johanna nicht sprechen zu können oder Lars Schafft draufsetzen zu müssen und seinen Chefredakteur zu enttäuschen, war das Ganze eher eine Erinnerung an frühere Seelenzustände, und es passierte nicht wirklich.
Damals hatte sein Vater ihn aus dem Eis gerettet. Er war danach nie wieder Schlittschuh gelaufen. Eine Weile hatte er sogar weiße Flächen gemieden. Es reichte ihm, wenn Schnee auf der Straße lag, und er hatte keine Lust mehr, das Haus zu verlassen.
In schwierigen Situationen war ihm immer wieder die Luft weggeblieben, und das Gefühl, unterm Eis festzustecken und das rettende Ausstiegsloch nicht ohne seinen Vater zu finden, hatte einen Einzelgänger und Sonderling aus ihm gemacht.
Fast vermisste er diese Erstarrungsreaktion. Er kam sich selbst fremd vor. Warum überstand er solche Situationen plötzlich genau so wie alle anderen Menschen?
Er wurde wütend, er schrie, er schimpfte, er verfluchte die anderen Autofahrer, aber er konnte atmen und drohte nicht, im Eiswasser zu versinken.
Eigentlich hatte er sich vorgenommen, den Wagen in der Nähe der Jahnwiese abzustellen und zu Fuß zur Wurster Straße zu gehen, damit sein Auto nicht sofort vor dem Haus entdeckt werden würde, denn er hatte insgeheim die Befürchtung, Johanna könnte sich dann vielleicht verstecken oder vor ihm weglaufen. Doch jetzt war die Zeit sehr knapp, und entgegen seinen vorherigen Plänen parkte er direkt vor dem Haus.
Es war siebzehn Uhr dreiundfünfzig. Im Grunde hätte er gleich wieder zurückfahren können, um Lars Schafft zu treffen. Noch hatte er eine Chance, pünktlich zu seinem Interviewtermin zu erscheinen. Er verfluchte die Baustelle auf der A 27 und klingelte.
Und wenn ich nur ein paar Minuten mit ihr reden kann, dachte er. Besser als nichts.
Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sie einfach einzuladen, mit ihm nach Delmenhorst zu kommen. Der Vortrag von Schafft würde sie vielleicht auch interessieren. Sie konnten im Auto miteinander reden und endlich mal
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