Neonträume: Roman (German Edition)
möchte ich, dass sie noch bleibt. Jetzt, wo ich alles weiß, wo sich HIV und Lenas Schwangerschaft als bloßer Spuk herausgestellt haben, wo sich die Wogen meiner Katastrophen geglättet haben– aus irgendeinem Grund möchte ich jetzt, dass sie noch bleibt, wenigsten eine halbe Stunde, oder lieber eine ganze. Mag sie schweigend dasitzen und ihre Zigaretten rauchen, ich würde sie anschauen und mich an die Zeit erinnern, in der die heutigen Probleme noch nicht existiert haben. Noch nicht einmal als unschuldiger Gedanke in ihrem oder meinem Kopf. Als alles auch ganz anders hätte kommen können. Damals, als wir noch zusammen waren. Ich stelle mir vor, es wäre gar nichts passiert, die Abtreibung nicht, und alles andere auch nicht. Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Ich liege hier im Krankenhaus, habe mir das Bein gebrochen– bei einem ganz banalen Unfall–, und sie kommt mich besuchen, plaudert mit mir, erzählt, was in der Stadt los ist, während ich hier ans Bett gefesselt bin. Was unsere Freunde so treiben, wie es auf der Arbeit läuft und so weiter. Jetzt ist mir wieder zum Heulen zumute…
» Weißt du, in der letzten Zeit habe ich ständig ein Wort vor Augen: warum«, sagt Olga. Sie hat schon den Türgriff in der Hand, zögert aber noch. » Es begegnet mir überall, manchmal sogar als Graffito an einer Hauswand, an Orten, wo ich nicht damit rechne.«
» Mir auch«, sage ich mit Tränen in den Augen. » Seit einiger Zeit sehe ich dieses Wort permanent.«
» In der Sadowaja habe ich es gesehen, in der Krassina und noch irgendwo. Sogar hier in Petersburg. Dann dachte ich auf einmal: Eigentlich wahr– warum? Warum habe ich das alles getan? Und was kommt jetzt? Als alles vorbei war, ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass es mir nicht genug ist, mich zu rächen. Rache ist gar nicht der eigentliche Grund für mein Handeln. Ich will etwas verändern, verstehst du? Wenn du die Frauen als dumme Schafe behandelst, dann bist du nichts anderes als ein blöder Bock. Ein sturer, hirnloser Schafbock. Aber tief in dir drin bist du eigentlich ganz anders, oder? Du bist ein Mensch, Andrej. Nach allem, was dir jetzt zugestoßen ist, wirst du vielleicht verstehen, dass man sich wehtun kann, nicht nur wenn man sich das Zahnfleisch verletzt. Es gibt tatsächlich Schlimmeres.«
» Warte, Olga, bitte geh jetzt nicht weg!« Ohne auf die Schmerzen im Bein zu achten, setze ich mich im Bett auf. » Bleib bei mir! Ich bin ein Schuft, eine Missgeburt, ein Arschloch, aber… aber doch nicht ganz und gar. Ich… wir… du und ich…«
» Hör schon auf!« Sie lächelt traurig und drückt die Klinke. » Du und ich– das gilt schon lange nicht mehr.«
» Wir könnten doch… ich könnte…« Eine Art Wortstarrkrampf befällt mich, ich fange an zu blubbern, denn es will mir nicht gelingen, einen zusammenhängenden Gedanken zu formulieren. » Versteh doch…«
Sie schüttelt den Kopf.
» Ich hoffe, du verstehst endlich.«
Das ist der letzte Satz, den sie sagt, dann ist sie fort. Ich lasse mich zurücksinken und schließe die Augen.
» In zwei Wochen spätestens können Sie nach Hause«, sagt die ältere Krankenschwester und räumt das Tablett mit dem fast unberührten Abendessen ab. » Der Doktor hat gesagt, der Bruch wächst gut zusammen.«
» Hm-hm.«
» Ihre Freundin war so aufgeregt, als sie gegangen ist.« Die Krankenschwester sieht mich an und lächelt. » So eine hübsche, nette. Sie hatte ganz schnell herausgefunden, in welchem Krankenhaus Sie liegen und ist Sie gleich besuchen gekommen. Und wie sie sich gekümmert hat! Sie hat Sie gleich in ein Einzelzimmer verlegen lassen!«
» Hm-hm.«
Mein Gott, wann gehst du endlich?, denke ich. Normalerweise kriegt die den Mund nicht auf. Das höchste der Gefühle war, dass sie mir Zigaretten besorgt hat. Aber heute ist sie wie ausgewechselt.
» Als man Sie hergebracht hat, haben Sie ganz wirr geredet. Sie seien HIV -positiv, haben Sie immerzu gesagt. Wir haben sicherheitshalber einen Test gemacht.«
» Ich war wohl lange bewusstlos?«
» Hm-hm«, nickt sie. » Aber jetzt sind Sie über den Berg. Bald sind Sie ganz gesund!«
» Schieben Sie mich bitte ans Fenster!« Ich lächele trübe. » Dann kann ich wenigstens rausgucken.«
» Im Krankenzimmer ist Rauchen eigentlich nicht erlaubt«, ermahnt sie mich zum hundertsten Mal, während sie mein Bett schiebt.
Als die Krankenschwester gegangen ist, setze ich mich halb auf, schiebe mir ein Kissen in den Rücken, öffne
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