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Neonträume: Roman (German Edition)

Neonträume: Roman (German Edition)

Titel: Neonträume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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noch was?«
    » Ich war noch nicht so weit, verstehst du? Ich war gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, ich…«
    » Falsch. Du bist nie erwachsen geworden. Du bist und bleibst immer siebzehn Jahre alt.«
    Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen und schweigt. Schweigt lange. Fünf, vielleicht zehn Minuten lang. Mir kommt es vor, als wäre es eine ganze Stunde. Manchmal zieht sie die Nase hoch, und das treibt mich zur Verzweiflung. Ich möchte sie abschalten. Ihr den Mund stopfen. Sie ausradieren. Von hier entfernen. Die Löschtaste drücken. Verdammte Scheiße, kommt denn keiner in dieses Krankenzimmer!?
    » Ich habe auf dich gewartet. Ich habe gewartet, dass du zurückkommst. Eine Woche, zwei Wochen, einen Monat, ich weiß nicht mehr wie lange. Ich habe einfach nicht existiert. Ich war nicht mehr da, nicht mehr in der Welt. Ich habe mich in Nichts aufgelöst. Ich habe nur gewartet, gewartet, gewartet: dass du eines Morgens, oder eines Nachts, irgendwann wenigstens anrufst. Und dann zu mir zurückkommst. Aber du hast nicht angerufen. Ich kann dir nicht beschreiben, in welchem Zustand ich mich befand…«
    » Hör auf, bitte!« Ich kann nur noch flüstern. » Warum willst du das alles wieder aufrühren? Willst du, dass ich noch kränker werde? Ich bin ein Loser, ein Penner, ein Arschloch, ein Schuft. Ich habe alles verloren, ich bin am Ende, ich habe Aids, ich musste aus meiner Stadt fliehen, verstehst du nicht? Ich bin am Ende! Hör auf, ich bitte dich!«, schreie ich wieder, aber Olga hört mir nicht zu, sie spricht im selben monotonen Ton weiter, wie eine Schlafwandlerin.
    » Du kommst zurück und wir leben wieder in unserer Welt, wo nur wir drei sind, du, ich und unser Kind. Was das ist, ein Kind, werde ich nicht mehr erfahren. Eine dumme Geschichte. Ich habe zu lange mit der Abtreibung gewartet. Es gab Komplikationen. Eines Morgens bei der Visite sagte dann der Arzt…«
    » Halt, nein! Ich will nicht wissen, was er gesagt hat! Hör auf, bitte hör auf!«
    Ich fange an zu schluchzen. Es schüttelt mich buchstäblich.
    » …dass ich keine Kinder mehr bekommen kann. An jenem Morgen habe ich dich vergessen. Ich glaube, man nennt das Verdrängung. Anstelle der Erinnerung blieb nur Leere. Wir haben alles Mögliche versucht, aber es geht nicht. Es geht einfach nicht.«
    Ihr Gesicht zeigt eine ganz natürliche Ratlosigkeit, als erzählte sie mir, ihre Mutter könne so leckere Piroggen machen, und ihre eigenen würden jedes Mal misslingen. Wieder steht sie auf und geht ans Fenster. Sie weint nicht mehr. Jetzt weine ich.
    Das Schweigen zieht sich wieder endlos in die Länge. Sie steht am Fenster, ich liege im Bett und knirsche mit den Zähnen. Nach einer Weile werde ich ruhiger.
    » Ich habe mich benommen wie ein… Aber was spielt das noch für eine Rolle? Gott hat mich bestraft. Gerecht bestraft.«
    » Gerecht. Dieses Wort habe ich früher nie von dir gehört. Gott hat wohl Besseres zu tun, als einem Jungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der die Mädchen, die er geschwängert hat, sitzenlässt. Oder die Bräute, wie du so gern sagst. Ich hasse diesen Ausdruck. Weißt du, als Lena mir erzählte, sie habe sich in einen Amerikaner verliebt, hat mich das zuerst überhaupt nicht interessiert.«
    » Lena ist eine Freundin von dir?«, platze ich heraus.
    » Amerikaner oder nicht Amerikaner– was spielt das für eine Rolle? Aber wie das nun einmal so ist bei verliebten Frauen, sie erzählen und plaudern und plappern eine Menge Intimes aus. Und dann zeigte sie mir dein Bild im Beobachter. Zuerst machte mir das gar nichts aus, bis sie erzählte, ihr wolltet heiraten und Kinder haben…«
    » Das hat sie sich alles bloß ausgedacht«, presse ich hervor. » Das stimmt doch alles gar nicht…«
    » Ja klar, das hat sie sich nur ausgedacht. Das Kind, die Heirat, den Amerikaner, Sohn eines Millionärs.« Olga setzt sich auf die Bettkante und streicht mir übers Haar. » Aber du bist ja ganz verschwitzt, du Armer!« Sie holt ein Handtuch und trocknet mir die Stirn. » Ich bin dann nach Hause gefahren, habe einen furchtbaren Streit mit meinem Mann angefangen und eine ganze Flasche Whiskey ausgetrunken. Er hat nicht gewirkt, stell dir vor! Und du weißt ja, normalerweise falle ich schon von drei Gläsern Wein um. Die ganze Nacht habe ich durchgeweint, aber am Morgen war alles wie weggewischt. Ich rief Lena an, wir haben uns getroffen, und ich habe ihr alles erzählt. Wie jede verliebte Frau hat sie mir zuerst natürlich kein Wort

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