Neonträume: Roman (German Edition)
spielen. Und ich glaube, auch für mich ist die Zeit gekommen, da ich mich nicht mehr positionieren muss, dass mit dem Stress, dem Schrecken und der Verzweiflung der vergangenen Tage auch das Spiel aus meinem Leben verschwunden ist. Ich muss keine unterschiedlichen Rollen mehr spielen, je nachdem, mit wem ich zusammen bin, ich muss nicht mehr lügen, nicht mehr herumlavieren. Menschen verändern sich, solange sie noch Hoffnung haben. Was für ein schlauer Spruch, was? Aber genauer kann man es nicht sagen.
Ich denke an die Zeit nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Nicht in dem Sinne von » Was wird dann aus mir?«, sondern einfach so, ganz allgemein. Die Welt verändert sich, die Menschen, die Beziehungen auch. Aber irgendetwas sagt mir, dass sich gleichzeitig auch nichts verändert, gar nichts, kein Deut.
Der Lada verschwindet um eine Hausecke. Ich wäre jetzt gern der junge Typ, den River Phoenix in My Private Idaho gespielt hat. Dieser Typ, der in der Schlussszene auf der menschenleeren Landstraße liegt, zuckend in einem epileptischen Anfall. Ein Auto hält an, ein Mann steigt aus, stellt fest, dass der Held bewusstlos ist, zieht ihm die Schuhe aus und fährt weiter. Dann kommt ein zweites Auto. Der Fahrer hält an, steigt aus, schnappt sich den Jungen und verfrachtet ihn kurzerhand auf den Beifahrersitz. Dann schlägt er die Tür zu, steigt selber wieder ein, startet den Motor und fährt los. Blauer Himmel, öde Landschaft, Abspann.
Ich rauche die Zigarette zu Ende und werfe die Kippe aus dem Fenster. Es wird dunkel. In einer Stunde ist Schlafenszeit. So sind hier die Regeln. Acht Stunden später werde ich geweckt. In aller Herrgottsfrühe. Ein Piepsen stört die Stille des Krankenzimmers. Weil ich die Quelle des Geräusches nicht herausfinde, will ich schon aufstehen und draußen auf dem Korridor nachsehen, aber plötzlich begreife ich, dass die Geräusche von meinem Handy kommen. Ein Anruf. Theoretisch kann niemand diese Nummer wissen. Ich weiß sie ja selber nicht einmal! Die Nummer kennt nur der, der da anruft. Es klingelt beharrlich– eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten lang. Es klingelt so, als wollte der Anrufer mir etwas sehr Wichtiges mitteilen. Die Lautstärke des Klingeltons steigt mit jedem Klingeln an. Eine idiotische Melodie. Wieder befällt mich Panik. Ich kenne diesen Anrufer nicht, es gibt niemanden, der mir etwas mitzuteilen hätte. Ich sitze vor dem Telefon, lasse es nicht aus den Augen, hypnotisiere es mit meinen Blicken, um es zum Schweigen zu bringen. Irgendwo hinter der Wand beginnt Radiohead zu spielen. Zuerst ganz leise, dann lauter, dann noch lauter und immer lauter, wie synchron mit diesem verdammten Handy:
No alarms and no surprises.
Please …
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