Neonträume: Roman (German Edition)
werden: von mir. Hätte mir ein Kumpel noch vor einem Monat diese Story aufgetischt, ich hätte dafür sofort meinen Lieblingsspruch parat gehabt: irgendwie kompliziert alles. In der Realität war alles ganz einfach. Einfacher geht’s gar nicht. Diese verblüffende Schlussfolgerung habe ich gestern gezogen, als ich am offenen Fenster saß und rauchte.
Nur eins habe ich immer noch nicht begriffen: Warum? Wozu das Ganze? Wozu haben sie das alles veranstaltet? Lena und Olga wollten Rache, Rita wollte Geld. Schön und gut. Aber ich glaube, es muss mehr dahinterstecken, irgendein tieferer Grund. Spiel mit dem Schicksal anderer Menschen? Ich habe mal gehört, das sei die stärkste Triebkraft der weiblichen Seele. Aber wer versteht das? Vielleicht ist der Grund ja auch so primitiv wie die Ausführung einfach: Sie haben das alles nur zu ihrem Vergnügen veranstaltet. Just for fun.
Endlich kommt der junge Typ wieder aus dem Gebäude. Er hat jetzt ein Mädchen dabei. Sie ist schwanger. Sieh mal an, gibt es hier sogar eine gynäkologische Abteilung? Sie bleiben am Auto stehen, das Mädchen unterhält sich mit dem Fahrer. Sie lachen. Einfache Freuden. So etwas hättest du auch haben können, Alter! Ich denke an Olga. Wir könnten… genauer, ich hätte damals können… wenn ich nur genug Hirn und Mut gehabt hätte, eine Entscheidung zu treffen. Wie alt war ich damals? Genauso alt wie dieser Junge da unten. Dreiundzwanzig. Es ist nicht länger als vier Jahre her. Heute kommt es mir so vor, als wäre es erst vorgestern gewesen, während mir noch vorgestern schien, meine Zeit mit Olga läge mindestens zehn Jahre zurück. Ich hätte vielleicht versuchen können, sie zurückzuhalten. Es ist alles so dumm. Vor vier Jahren hätte es mich nicht die geringste Mühe gekostet, sie zurückzuhalten. Was heißt zurückzuhalten– ich hätte einfach bei ihr bleiben müssen. Sie wollte Liebe, und ich… ich wollte auch Liebe. Es hat sich nur gezeigt, dass wir beide unter diesem Gefühl etwas sehr Unterschiedliches verstanden haben. Und doch: Das war doch grad eben erst– sie und ich. Dann Lena und ich, Rita und ich, ich und noch ein ganzer Haufen von Namen. Ich und ich.
Oh this is hardcore – there is no way back for you.
Javis’ Stimme steigt auf den höchsten Ton, verharrt dort und kommt dann zum Finale des Stücks.
Oh this is hardcore – this is me on top of you.
Ich singe mit, ohne die Lippen auseinanderzunehmen.
Seltsam, was? Man geht an hundert Namen vorüber, nur um am Ende wieder bei sich anzukommen. Um zu begreifen, dass man einmal unendlich geliebt wurde.
And I can’t believe that it took me this long …
Seltsame Angelegenheit: Ich sollte mich doch freuen über diese unverhoffte Rettung, freuen, dass alles so glimpflich ausgegangen ist. Ich habe kein Aids, die Security-Schläger haben mich nicht in meine Einzelteile zerlegt, ich habe Lena nicht dazu gebracht, ihr Kind abzutreiben, ich habe ein Zugunglück überlebt; selbst Olga hat mir im Endeffekt nichts wirklich Schlimmes angetan. Ich lebe und bin gesund. Alle leben und sind gesund. Aber sogar meinem vielgerühmten Zynismus fällt nichts anderes ein als eine Zeile aus einer Zeitungsüberschrift, die ich irgendwann einmal gelesen habe: ES GAB KEINE ÜBERLEBENDEN .
Jetzt will ich nur noch, dass das alles endlich vorbei ist. Dass alles, was mir in Moskau passiert ist, endlich Vergangenheit ist. Man sagt, die Menschen ändern sich. Der Fortschritt sei der natürliche Zustand der Menschheit und so weiter. Ich bin bereit, mich zu ändern. Aufzuhören mit den Partys, den Drogen und dem Alkohol. Ich muss noch einmal ganz von vorne anfangen, das ist alles. In Moskau oder in Petersburg oder sonst wo. Ganz egal. Die beiden Typen und das Mädchen steigen in das Auto und fahren los. Ich sehe dem sich entfernenden Lada nach und denke, dass dort, in diesem Auto, lebendige Menschen sind. In dem Sinne, dass sie leben und nicht nur eine Rolle in einem Schauspiel spielen.
Oh, what a hell of a show. But what I want to know:
What exactly do you do for an encore? Cos this is hardcore.
Noch einmal singe ich die letzte Strophe des Liedes, das ich vorhin nicht zu Ende gehört habe.
Ich glaube, dass sie wirklich glücklich sind, diese Menschen. Sie brauchen keine flotten Sprüche, wie ich sie so gerne verteile: » Je nachdem, wie man sich positioniert…«, » alles kompliziert« und so weiter. Sie brauchen sie nicht und sie kennen sie nicht. Sie sind, was sie sind, nicht das, was sie
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