Neonträume: Roman (German Edition)
das Fenster und stecke mir eine Zigarette an.
Das ist mein einziges Vergnügen. Den Menschen im Hof des Krankenhauses zuzusehen und mir Geschichten für sie auszudenken. Ich habe sogar ein festes Ensemble: ein kleines Grüppchen von Patienten und einige Angestellte. Dieser junge Arzt da zum Beispiel, der immer hierherkommt, um zu rauchen. Und abends drücken sich in einer Ecke die jungen Schwesternschülerinnen herum. Und die Oma da kommt auch jeden Tag. Manchmal beobachte ich sie dabei, wie sie lebhaft in ein Handy quasselt. Coole Oma. Unter dem Vordach am Eingang erscheinen zwei Studenten, sie schreien und krümmen sich vor Lachen; wahrscheinlich besoffen. Ich nehme an, sie haben einem Kumpel einen Besuch abgestattet und ihm » Obst« vorbeigebracht. Ich sehe den Menschen zu und versuche mir vorzustellen, wer sie sind, was sie studieren, was sie gemacht haben, bevor sie hierher ins Krankenhaus kamen, und wohin sie anschließend gehen werden. Diese beiden Studenten werden jetzt natürlich schnurstracks in eine Bar oder einen Klub am Stadtrand marschieren. Heute ist schließlich Freitag. Dort treffen sie sich mit ihren Freundinnen oder lernen neue Mädchen kennen. Und später landen sie dann bei einem Jungen oder einem Mädchen aus der Runde, die sturmfreie Bude haben. Sie nehmen eine Flasche Wermut mit oder zwei Flaschen Weißwein, für die Jungs wahrscheinlich Wodka. Bewusstseinsverändernde Stoffe scheinen die beiden da unten jedenfalls nicht zu sich zu nehmen, dafür sind ihre Gesichter noch zu rosig. Oder liegt das am Alter?
Für jeden von diesen Leuten da unten kann ich mir eine Geschichte ausdenken. Je öfter ich sie sehe, desto plastischer werden meine Einfälle. Vielleicht werde ich doch noch Schriftsteller, wenn ich hier endlich rauskomme. Aber Hip-Hopper jedenfalls nicht. Ich kann mir eine Geschichte für jeden beliebigen anderen Menschen ausdenken, nur nicht für mich.
Jetzt fährt ein alter Lada vor. Ein junger Typ von etwa dreiundzwanzig Jahren steigt aus und geht zum Eingang. Der Fahrer schält sich langsam aus seinem Sitz, bleibt neben dem Wagen stehen und zündet sich eine Zigarette an. Die Wagentür lässt er offen stehen, die Musik aus dem Inneren schallt gut hörbar zu mir herüber:
You are hardcore, you make me hard,
You name the drama and I’ll play the part,
It seems I saw you in some teenage wet-dream,
I like your get-up if you know what I mean.
Das ist ein Stück von Pulp: » This is Hardcore«. Pulp finde ich spitze, ich kenne fast alles von ihnen auswendig. Mir gefällt diese angelsächsische Depressivität. Das heißt, inzwischen gefällt sie mir, früher mochte ich andere Stücke, schnellere, lebendigere, hellere. » Disco 2000«, zum Beispiel, oder » Common People«. Das ist lange her. Da hab ich noch am Daumen gelutscht. Aber das passt ja auch zu meinem Leben, anders als Hardcore kann man das nicht nennen, was ich in der letzten Zeit durchgemacht habe. Ein finsterer und böser Hardcore-Streifen. Allerdings nicht im pornografischen Sinne, leider, das wäre mir erheblich lieber. Hauptsache, ich verfalle nicht komplett der Paranoia, wenn ich hier rauskomme. Die Chancen stehen allerdings schlecht, wie ich die Sache sehe. Nach dem, was Olga mir da serviert hat, kann ich mir gut vorstellen, dass ich den Rest meines Lebens einfach alles nur noch für Fake halten werde, für unsichtbares Theater. Wie soll man wissen, ob nicht alles, was einem zustößt, nach dem unsichtbaren Drehbuch eines Irren abläuft? Andererseits, nichts geschieht einfach so…
» I’ve seen all the pictures, I’ve studied them forever« – Jarvis Cocker spricht mir aus der Seele. Habe ich daraus die Konsequenzen gezogen? Hmm…
In den Tagen nach Olgas Erscheinen grübele ich immer wieder über alles nach. Ich staune wirklich darüber, wie präzise und detailliert sie ihren Plan durchdacht hat, aber auch darüber, wie authentisch Rita und Lena ihre Rolle gespielt haben. Ein passionierter Cineast würde wohl sagen, das Drehbuch sei etwas schwach. Und tatsächlich, es ist doch völlig unwahrscheinlich, dass drei Bräute, und seien sie noch so schlau, einen immerhin nicht ganz verblödeten Typen so banal hinters Licht führen können. Tja, wie sich gezeigt hat, können sie das, und wie sie es können! Im Film allerdings könnte so ein selbstverliebter Typ wie der Held meiner Story, einer, der niemals weiter sieht als bis zum Ende seiner Nase, nur von einem sehr, sehr talentierten Schauspieler dargestellt
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