Nephilim
worden. Geleerte Büchsen standen unter dem Fenster. In der Ecke Erbrochenes und Exkremente. Und in der Luft der Geruch des Gejagten – sein stockender Atem, sein unterdrückter Schrei, seine beißende Angst. Es war der Geruch eines Verräters.
Seit mindestens zwei Tagen hauste er hier, jener Nephilim, der vor seinesgleichen geflohen war. Er durfte es kaum wagen, nach draußen zu gehen. Die Engel machten Jagd auf ihn, ebenso wie die Nephilim. Ihm blieb keine Wahl. Er musste warten, bis die Luft für ihn rein war. Dann würde er in den Untergrund gehen, heimlich und versteckt, er würde sich von einem zwielichtigen Magier ein Mittel besorgen, das seine Magie unterdrückte, und er würde sich seiner Flügel entledigen. Vermutlich würde er sie sich auf einem unsauberen Schwarzmarkt amputieren lassen, um ein Leben im Verborgenen zu führen, gehetzt von den Engeln, verfolgt von seinem eigenen Volk, das Verrat und Rache fürchtete. Doch der Gejagte war ein Feigling, man konnte es riechen, wenn man seinen Duft in sich aufnahm, wenn man seine Worte gehört hatte durch den Nebel hindurch, als man dem Teufelssohn gefolgt war. Niemals würde dieser Kerl zu den Engeln gehen, um einen Paktschluss mit ihnen zu erwirken. Dafür klammerte er sich zu sehr an sein erbärmliches Leben. Nein. Er würde an diesen Ort zurückkehren. Er war auf der Flucht, er ging davon aus, dass seine Verfolger ihn aufspüren und einsperren oder töten würden. Doch niemals würde er damit rechnen, einen Dämon in seinem Versteck anzutreffen.
Für einen Moment flammten die schwarzen Augen Bhroroks im fahlen Schein des Spiegels auf. Er war der Spur des Gejagten gefolgt, hatte all seine Sinne nach ihm ausgestreckt, und nun, da er seit Stunden regungslos darauf gewartet hatte, dass er zurückkehrte, traf ihn das Geräusch vor dem Fenster wie ein Schlag. Er hörte auf zu atmen. Regungslos hockte er in den Schatten, verschmolz mit ihnen, bis nur noch die Umrisse seines kalkweißen Gesichts aus der Finsternis starrten.
Etwas flog durch das Fenster, es war eine Dose mit Bohnen. Mit dumpfem Geräusch landete sie auf den feuchten Steinen. Gleich darauf schob sich eine Gestalt in den Raum, es war ein Nephilim mit halb zerrissener Hose und schmutzverkrusteten Schwingen, die schlaff von seinem Rücken hingen. Keuchend landete er auf den Obstkisten und sprang auf den Boden, um gierig nach der Dose zu greifen. Doch kaum dass seine Finger seinen Fang berührten, schien er den Schatten zu bemerken, der sich in sein Versteck geschlichen hatte. Er hob den Kopf, ein Schreckenslaut entwich seiner Kehle, als er in Bhroroks Gesicht starrte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, seine Augen weiteten sich. Für einen Moment sah es aus, als würde er losheulen.
»Was willst du von mir?«, fragte er mit hoher Stimme, die unangenehm in den Gewölben des Kellers widerklang, und streckte zitternd die Hand für einen Zauber nach seinem Gegenüber aus.
»Ich bin nicht dein Feind«, erwiderte dieser und schob sich aus den Schatten auf den Verräter zu, der unter dem Klang von Bhroroks Stimme zusammenfuhr. »Ich habe euch im Nebel gehört. Ich habe gehört, was du zu ihm sagtest. Ich bin dir gefolgt, denn wir haben dasselbe Ziel. Du willst, dass er verschwindet. Nicht wahr?«
Er sah, wie der Nephilim ihn anstarrte, vollkommen fassungslos, und für einen Moment stieg Übelkeit in ihm auf, als er das gierige Flackern in dessen Augen bemerkte, diese kriecherische Feigheit, die sich danach sehnte, etwas Böses zu tun, ohne sich dabei die Finger schmutzig zu machen. Er hatte für Verräter dieser Art noch nie etwas übriggehabt.
»Ich kann dir helfen«, fuhr er dennoch fort, denn er wusste, dass er keine andere Wahl mehr hatte. »Mein Herr verlangt nach seiner Kraft. Ich kann sie ihm wiedergeben, wenn ich den Jungen in die Finger bekomme. Jener, der ihn finden sollte, wurde vernichtet, doch früher oder später werde ich den Sohn des Teufels aufspüren. Und dann presse ich ihm das Leben aus dem Leib und verschaffe meinem Herrn das, was ihm gebührt: die Macht über die Welt!« Er hielt kurz inne und ließ seinen Blick über die zitternde Gestalt des Verräters gleiten. »Ich kann ihn aus dem Nest reißen, in das er sich gesetzt hat, den Bastard, den wir beide hassen. Ich kann ihn das fühlen lassen, was du nun fühlst. Ich kann ihn leiden lassen – wenn du mir hilfst.«
Er spürte die Worte wie Feuer auf seiner Zunge. Es fiel ihm schwer, das widerwärtige Glotzen des
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