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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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sie wühlten auch das Mohnfeld auf und spielten mit dem Wind, der Nandos Haare zerzauste und mit leisem Heulen in die Musik einfiel.
    Wenige Tage waren seit der Zeremonie vergangen, und Nandos Verletzungen waren vollständig verheilt. Nur ein leichtes Ziehen in der Schulter erinnerte ihn bei unbedachten Bewegungen an die scharfen Zähne des Wolfs, und mitunter tauchte Bhroroks Gesicht in ihm auf, plötzlich und unerwartet wie die Erinnerung an einen Albtraum. Eines Tages, vielleicht bald schon, würde Nando sich ihm entgegenstellen und ihn bezwingen, und danach würde er ihn aus seinen Gedanken verbannen – für immer.
    Sanft zog Nando den Bogen über die Saiten. Die Musik brandete in Wellen zur Stadt hinüber, und er wusste, dass die Nephilim sie hören konnten, und als er das Instrument sinken ließ und tief Luft holte, hörte er die ersten Takte eines Triumphmarsches erklingen. Kaya warf ihm einen Blick zu. Sie nickte vielsagend, und Nando lächelte. Die Melodie, die Riccardo seiner Klarinette entlockte, wehte zu ihm herüber wie ein Lachen unter Freunden. Gedankenverloren strich er über die Blätter einer Mohnblume und betrachtete den Blütenstaub, der rot wie Blut an seinen Fingern haften blieb. Wie oft hatte er sich nach einem seiner einsamen Spiele am Fenster seines Zimmers gewünscht, dass ein anderer Nephilim ihm antworten möge, wie oft war er eingeschlafen mit den Klängen ihrer Instrumente, die wie Frage und Antwort über Bantoryns Dächer geweht waren, und wie glücklich war er gewesen, als er erstmals eine Erwiderung erhalten hatte. Es war ein langer Weg gewesen, das Vertrauen Bantoryns zu erlangen. Nun war sein Spiel ein Teil dieser Stadt geworden, und ihre Bewohner antworteten ihm, dem Teufelsgeiger, wie selbstverständlich auf seine Musik. Ein Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt, als Kaya ihn anstieß.
    »Sieh mal«, flüsterte sie und deutete den schmalen Weg hinab, der von den Toren der Stadt zum Mohnfeld führte.
    Nando folgte ihrem Blick und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass Antonio den Weg hinaufkam. Er hielt den Blick gesenkt und ging leicht gebeugt, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern.
    »Am besten ziehst du dich zurück«, raunte Nando zurück, denn es war nicht zu übersehen, dass sein Mentor nicht zum Vergnügen hierherauf kam.
    Kaya verdrehte die Augen. »Aber du kannst Gift darauf nehmen, dass ich lauschen werde«, zischte sie und verschwand in der Geige.
    Vorsichtig verstaute Nando das Instrument in seinem Geigenkasten und schaute Antonio entgegen, der in diesem Moment den Hügel erreichte. Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht des Engels, als er auf Nando zutrat.
    »Du hast dir einen schönen Platz ausgesucht für dein Spiel«, sagte er und ließ sich neben ihm nieder. Die Mohnblüten neigten sich vor ihm zur Seite, fast schien es, als würden sie ehrfürchtig die Köpfe senken, als er in ihrer Mitte Platz nahm.
    »Ich mag den Duft des Mohns«, erwiderte Nando. »Wenn man es genau nimmt, war dieser Duft das Erste, das ich von der Schattenwelt kennenlernte – mal abgesehen von dir.«
    Antonio lachte auf. »Nun, ich scheine dich ja nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Du hast mich fortgeschickt, erinnerst du dich? Vermutlich hieltest du mich für einen Verrückten.«
    »Allerdings«, stimmte Nando ihm zu und grinste. »Manchmal frage ich mich, ob sich daran so viel geändert hat.«
    Antonio hob die Brauen. »In der Tat«, erwiderte er und lachte leise. »Manche Dinge ändern sich nie … andere hingegen sehr wohl.« Er schaute zur Stadt hinüber, schweigend nun und ernst. »Ich liebe diesen Ort«, sagte er wie in Gedanken. »Ich liebe ihn mehr als jeden Stein dieser Stadt. Hier stand ich, als ich den Entschluss fasste, Bantoryn zu erbauen, und ich kam oft hierher, während ich das tat, saß inmitten meines Mohns und flog mit dem Wind und meinen Gedanken davon. Hier kann man ihn besonders deutlich hören, nicht wahr? Den Herzschlag der Welt.«
    Er legte beide Hände flach auf die Erde und schloss die Augen. Jedes Lächeln zog sich von seinem Gesicht zurück und verwandelte es in eine Maske aus Stein. Nando betrachtete ihn schweigend. Wieder einmal überkam ihn ein Gefühl von Ehrfurcht und Demut, als er die Kälte des Alters hinter seinen Wangen spürte, und wie immer war er versucht, die Hand auszustrecken, um herauszufinden, ob Antonios Haut weich war oder ob sie in Wahrheit aus Marmor und Eis bestand.
    »Es gibt Orte, die wie das Innere eines Engels

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