Nephilim
unterbrach seine Gedanken. »Der Weg nach Bantoryn ist nicht mehr weit, aber es lauern Gefahren unterwegs, denen wir uns stellen sollten, solange du noch laufen kannst.«
Er erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort in den Tunnel hinein. Nando beeilte sich, ihm zu folgen. In der Tat hatte die Flucht ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Dumpf pochte die Erschöpfung hinter seiner Stirn, doch er weigerte sich, ihr den Raum zu geben, den sie begehrte. Noch vor wenigen Stunden hätte er jeden, der ihm erzählt hätte, dass er sich bald in einer solchen Welt wiederfinden würde, für verrückt erklärt. Doch die Zeiten änderten sich. Hier unten durfte er nicht mehr Nando, der Tellerwäscher, Aushilfskellner und Träumer sein. Er war kein Held, das nicht. Aber er war ein Nephilim, er war aus mehreren Metern Höhe auf ein Auto gefallen, ohne sich auch nur einen Knochen zu brechen, und er hatte Avartos und seine Engel abgehängt mit dem Spiel seiner Geige. Er würde auch den letzten Rest des Weges in diese sagenhafte Stadt ohne Zusammenbruch überstehen.
Der Tunnel, durch den sie gingen, roch nach feuchten Gesteinen und Salz. Winzige blaue Sprenkel in den Wänden spendeten ein diffuses Licht, das die Schatten in den Felsspalten unheimlich flackern ließ. Von irgendwoher kam Wind, der säuselnd um die Ecken strich und Nando immer wieder ganz plötzlich ins Haar griff wie eine lebendige Hand. Antonio ging voraus, sein Mantel schwang mit jedem seiner Schritte, und seine Schwingen ragten fast bis hinauf zur Decke. Nando bewegte die Schultern und spürte das Ziehen seiner Muskeln im Rücken und im Brust- und Schulterbereich. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich vollkommen an seine Schwingen gewöhnt hatte.
Ihre Schritte verklangen ohne Widerhall, als hätten die Wände lange keinen Laut eines lebendigen Wesens mehr gehört und würden nun jeden Ton umso gieriger verschlingen. Nando hielt die Geige fest in den Händen, noch immer fühlte sie sich warm an und auf eine gewisse Weise tröstlich, und er hörte wieder die Musik, die er wie ohne sein Zutun auf der Flucht vor den Engeln zustande gebracht hatte. Er dachte an Yrphramar und daran, was sein alter Freund ihm wohl sagen würde, wenn er ihn nun sehen könnte.
Antonio hielt inne und legte flüsternd die linke Hand auf die Tunnelwand. Ein Stöhnen ging durch den Fels, als würden sich Gesteinsmassen hindurchschieben. Silberne Funken sprangen von Antonios Fingern und liefen in einem filigranen Muster über die Wand, das in der Mitte ein türähnliches Rechteck hinterließ. Langsam ließ Antonio die Hand sinken, und steinerne Zahnräder verschiedener Größe schoben sich unter den Funken aus dem Fels und griffen leise knirschend ineinander. Sie bildeten die Umrisse einer Steintür, die sich nach oben hin aufschob und sich umgehend wieder senkte, nachdem Antonio und Nando hindurchgegangen waren. Hinter der Tür lag ein weiterer Tunnel, so niedrig, dass Nando den Kopf einziehen musste. Er warf einen Blick zurück zu der Tür, die lautlos auf dem Boden aufsetzte. Ihre Zahnräder verschmolzen mit dem Gestein der Wand, bis sie nicht mehr zu sehen war.
»Bantoryn ist das größte Geheimnis eines jeden Nephilim«, sagte Antonio, während sie nebeneinander den Gang hinuntergingen. »Die Engel versuchen seit Jahrhunderten, diese Stadt zu finden. Gelänge es ihnen, würde das den Tod jener Nephilim bedeuten, die jenseits des Lichts Zuflucht vor ihnen suchen, und es liegt in meiner Verantwortung, die Stadt zu schützen, die ich einst gründete.«
Die Decke hob sich langsam, und sie gelangten an eine Weggabelung. Sieben Gänge zweigten von ihr ab, von denen einer für Nando aussah wie der andere. Antonio zog ein schwarzes Tuch aus seiner Tasche und hielt es ihm hin.
»Noch bist du nicht aufgenommen in den Bund der Nephilim«, sagte er. »Mit Ankunft in der Stadt wird der Senat Bantoryns zusammenkommen, um darüber zu entscheiden, ob du die Weihe zu einem der unseren erhalten sollst, und dann wirst du die Wege in die Stadt erfahren und fähig sein, die Portale in Ober- und Unterwelt zu verwenden. Denn sie sind an das Blut der Bewohner Bantoryns gebunden, und nur sie können sie nutzen. Bislang wurde kein Nephilim zurückgewiesen, der mit der Bitte um Schutz vor den Senat trat, doch es ist Gesetz, dass nur derjenige die Wege nach Bantoryn kennen darf, der ein Teil der Stadt geworden ist.«
Nando holte tief Atem. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es in der verborgenen
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