Nephilim
Antonios Stimme, die ihn mit Schärfe zurückrief, und fühlte zu spät die Kälte, die plötzlich auf ihn zuströmte. Erst das Grollen riss ihn aus der Verzauberung. Es war ein Laut von solcher Tiefe, dass es seinen Herzschlag aussetzen ließ. Umgehend verwandelten sich die Ovo in Rehe und Damhirsche zurück und verschwanden wie zuckende Blitze im Nebel. Im nächsten Moment brach ein Schatten aus den dünnen Nebelschichten direkt vor Nando, baute sich vor ihm auf und brüllte noch einmal tief und grollend.
Der Boden erzitterte so heftig, dass Nando auf die Knie fiel, doch er konnte sich nicht rühren. Wie gelähmt starrte er hinauf zu der Kreatur, die mit ihrer Stimme den Nebel in Fetzen riss. Vor ihm stand ein riesiger Hirsch, der direkt aus der Hölle entsprungen zu sein schien. Ein pechschwarzes Geweih ragte aus dem Schädel, dessen Schlund knisternde Glut barg, und aufgeklappte Hautpanzer überzogen seinen Leib. Blutige Rippen lagen unter aufgebrochenem Fleisch, und schwarzes Fell sträubte sich im Nacken wie bei einem Wolf. Die Augen der Kreatur waren weiß wie das Nichts und so durchdringend, dass Nando bei einem einzigen Blick hinein glaubte, ersticken zu müssen. Erschrocken wich er zurück, als das Wesen auf ihn zutrat, und fühlte sich von dessen Blick wie mit glühenden Messern an den Boden gefesselt. Es würde ihn umbringen, das stand außer Zweifel. Gerade wollte Nando aufspringen und die Flucht antreten, als eine Gestalt sich an ihm vorbeischob und auf das Wesen zutrat.
»N’acham Hel’ E’chai«, raunte Antonio und neigte ehrfürchtig den Kopf.
Nando hatte aufgehört zu atmen. Da stand der Engel mit gesenktem Kopf, die Schwingen demütig niedergestreckt, die rechte Hand auf der Brust, und zollte diesem Untier Respekt, das ihn aus seinen madenweißen Augen anstarrte und ihn vermutlich umgehend einen Kopf kürzer machen würde. Nando kam auf die Beine. Er musste etwas tun, irgendetwas, doch gerade als er einen Schritt auf den Hirsch zugetreten war, wandte dieser den Blick. Er sah Nando an, und seine Augen veränderten sich. Das Weiß wich einem tiefen Nachtblau, und die plötzliche Finsternis packte Nando mit eherner Faust. Unbarmherzige Kälte schoss durch seine Glieder, er bekam keine Luft mehr, doch da entfachten sich Flammen in der Dunkelheit wie goldene Sterne, und Nando war frei. Er wusste, dass ihm der Mund offen stand, und konnte ihn dennoch nicht schließen. Undeutlich sah er, wie Antonio die Hand auf den Hals des Hirsches legte und die gepanzerten Klappen sich an dessen Körper schmiegten. Das verletzte Fleisch heilte wie durch Zauberhand, und schwarzes Fell zog über die Rippen. Nando sah es aus den Augenwinkeln schimmern wie kostbaren Samt. Doch sein Blick ruhte auf den Augen des Hirsches, diesen Augen, die nichts waren als Nacht und Sterne.
»Du bist als Mensch in die Schattenwelt gekommen«, sagte Antonio leise. »Und als Mensch hat Olvryon, Herrscher der Ovo und Gebieter über die Ströme der Nacht und die Hügel des Zorns, dich begrüßt. Denn Menschen von der Art der Oberwelt sind hier unten nicht erwünscht. Doch Olvryon sieht, wer du wirst. Das solltest du auch tun. Du musst ein Teil der Schattenwelt werden – jener Teil, der du immer schon warst.«
Nandos Herz klopfte wild, als der Hirsch auf ihn zutrat. Er kam ihm so nah, dass er seinen Atem auf seinem Gesicht fühlen konnte. Lautlos stieß der Ovo die Luft aus. Nando sah flirrende Lichter auf sich zufliegen, instinktiv schloss er die Augen und fühlte winzige Funken auf seinen Wangen. Er hörte es wieder, das Lachen, das ihn beim Eintritt in den Nebel begrüßt hatte, und er spürte, dass in diesem Moment etwas in ihm zersprang, etwas, das er eine Ewigkeit mit sich herumgetragen hatte, ohne zu wissen, wohin es ihn führen würde – eine haltlose und brennende Sehnsucht nach etwas, für das er keine Worte hatte.
He’vechray , hörte er eine tiefe Stimme in seinem Kopf, und er verstand die Bedeutung dieses Wortes instinktiv.
Heimat , wiederholte er in Gedanken.
Ein Windzug streifte sein Gesicht. Er öffnete die Augen, doch Olvryon war verschwunden. Stattdessen meinte Nando, ein Beben im Boden zu spüren, ein dumpfes, regelmäßiges Pochen wie … Ihm stockte der Atem, doch im selben Moment war jedes Geräusch verklungen, als wäre es nichts als eine Illusion gewesen. Antonio wandte sich ihm zu, ein kaum merkliches Lächeln lag auf seinen Lippen.
Es wird Zeit brauchen, bis dieser Klang mehr als eine Ahnung für dich
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