Nerd Attack
Wettrennen schlagen konnte, und hatte eine kurze, aber heftige Fantasieaffäre mit Wonder Woman hinter mir, die mir mit ihrem knallengen Sternchenmieder, ihren kugelsicheren Armbändern und ihrem unsichtbaren Düsenjet völlig den Kopf verdreht hatte.
Comics waren jedoch nur die Einstiegsdroge: Der freundliche Mann mit der Pfeife in der Romanboutique besaß ein enzyklopädisches Wissen über die fantastische Literatur des 20. Jahrhunderts, empfahl Bücher und freute sich, wenn man wiederkam. Ich las Philip K. Dick und Robert Sheckley, Robert Heinlein und Stanislav Lem, Isaac Asimov und Brian W. Aldiss, John Brunner, Bruce Sterling und William Gibson. Als ich irgendwann in Michael Endes »Die unendliche Geschichte« auf die Buchhandlung stieß, in der Held Bastian den Band findet, der ihn in eine Fantasiewelt transportiert, war ich überzeugt, den Laden schon zu kennen. Man findet so ein Geschäft in den Biografien vieler meiner Altersgenossen: Die Rollenspiel-, Comic-, Science-Fiction- und Fantasy-Shops unserer Kindheit waren die Tore zu einer eigenen Subkultur, wie Plattenläden für hippe Großstadtkinder.
Die »Romanboutique« ist bis heute ein Treffpunkt unterfränkischer Rollenspieler. Schon damals bot der Laden alles an, was man dazu in den Achtzigern brauchte: die roten Schachteln von »Dungeons & Dragons«, die schwarzen von »Das schwarze Auge«, Manuale aller gängigen Spielsysteme von »Midgard« über »Mittelerde« bis hin zu »Call of Cthulu« und dem unglaublich komplexen »Rolemaster«. Außerdem Würfel in allen Farben und Formen, von vier- bis zwanzigseitig, Paladine, Goblins und Drachen, Kampfroboter und Science-Fiction-Panzer aus Zinn, Spezialfarbe zum Bemalen der Zinnfiguren, Spezialpapier zum Zeichnen von Rollenspiellandkarten und sogar ein paar Simulationswaffen in Originalgröße, Schwerter, Äxte und Schilde für Live-Rollenspiele im Wald.
Diese Spielzeugwaffen stehen für die maximale Annäherung des Rollenspielers an die Wirklichkeit, »Rolemaster« dagegen ist die Apotheose des zahlenversessenen Aspekts der Szene, der maximalen Abstraktion: Das selbst unter Veteranen gefürchtete Spielsystem ist in mehreren bildbandgroßen Büchern niedergelegt, die fast vollständig mit Tabellen gefüllt sind. In ihnen muss ein Spielleiter beispielsweise nachschlagen, was genau geschieht, wenn ein Held einer bestimmten Spielstufe mit einer bestimmten Waffe einen Gegner einer bestimmten Klasse, mit einer bestimmten Bewaffnung und Rüstung attackiert und dabei mit einem zehnseitigen Würfel eine Acht wirft. Alle Rollenspiele haben solche Tabellen, aber »Rolemaster« hat die meisten und umfangreichsten und wird innerhalb der Szene deshalb manchmal zu »Rulemaster« (Regelmeister) verballhornt. Die wenigen Hardcore-Nerds, die ihre Freizeit tatsächlich mit dem Studium (seltener der tatsächlichen Benutzung) dieses kompliziertesten aller Regelwerke verbrachten, wurden von normalen Eskapisten wie mir und meinen Freunden mit einer Mischung aus Ehrfurcht und leiser Verachtung betrachtet. Gleichzeitig waren »Rolemaster«-Experten auch am ehesten diejenigen, die sich zu Hause an ihren C64 setzten und Programme zum Auswürfeln all der Spielvarianten schrieben, die nerdigsten unter den Nerds. Heute sind einige von ihnen Multimillionäre, die Herren über Azeroth, Norrath und Co. Simulierte Fantasiewelten in eine berechenbare Form zu gießen ist eines der lukrativsten Geschäftsmodelle der Gegenwart, sei es im Kino oder am PC.
All die Manuale und Tabellenkompendien gibt es heute noch. Die Mehrheit der weltweit inzwischen Abermillionen von Rollenspielern überlässt das Würfeln, Ausrechnen und Nachschlagen heute aber lieber dem Computer. Allein »World of Warcraft« hatte im Sommer 2010 zwölf Millionen zahlende Abonnenten, die als Orks oder Tauren, Elfen oder Zwerge eine von Hunderten Kopien der Online-Welt Azeroth durchwandern. Der »World of Warcraft«-Betreiber Blizzard Entertainment, mittlerweile mit Activision zum größten Computerspielkonzern der Welt verschmolzen, setzte allein mit »World of Warcraft« Schätzungen zufolge im Jahr 2008 über eine Milliarde Dollar um. Blizzard-Mitgründer Frank Pearce erklärte mir einmal in einem Interview, er betrachte sich selbstverständlich als Geek und, ja, er liebe Science-Fiction und Fantasy noch immer. Pearce ist einer von denen, die aus ihren Nerd-Wurzeln ein kleines Imperium gemacht haben. Auf die Frage, ob Nerds oder Geeks nun die Weltherrschaft an sich
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