Nerd Attack
geben können als Welten, in denen Dinge möglich waren, die es in Wirklichkeit nicht gab? In denen faszinierende Kreaturen hausten und jeder ein Held sein konnte? In denen grundlegende philosophische Fragen täglich Thema waren und die Technologie so weit entwickelt, dass der Mensch seinen Geist direkt mit dem Computer verbinden konnte – mit einem Stecker hinterm Ohr wie in den Romanen der sogenannten Cyberpunk-Autoren?
Das seltsame, aber ziemlich konsistente Sammelsurium dessen, wofür sich viele Computerkids der Achtziger so brennend interessierten, ist inzwischen beinahe zu einer Art Kanon geronnen. Zur Nerd-Kultur gehören nicht nur Computer und Spiele, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Themen, die in den Neunzigern langsam in den Mainstream wanderten. Im gleichen Maße, wie die Nerds dank der wachsenden Bedeutung von Rechnern auch in Wirtschaft und Kultur an Einfluss gewannen – vom Software-Unternehmer über den Computer-musiker bis hin zum Webdesigner –, fanden auch ihre Lieblingsthemen Eingang in die Popkultur.
Als mein Freund Jan und ich Anfang der Achtziger zuerst den »Kleinen Hobbit« und anschließend mehrmals Tolkiens »Herrn der Ringe« lasen, erschien uns das noch wie ein avantgardistischer Akt, ein Eintritt in eine geheime, fremde Welt, zu der die Erwachsenen keinen Zutritt hatten. Die »Herr der Ringe«-Ausgabe aus dem Verlag Klett-Cotta, die Jan mir auslieh, sah entsprechend aus: Die Hüllen der dicken Taschenbücher waren giftgrün, auf den Covern wanden sich mächtige Schlangen um dicke Ringe, einzelne Augen starrten einen an. Die Bände glichen heiligen Büchern einer okkulten Sekte, satanistischen Schriften, magischen Manualen.
Zwölfjährige Schüler hatten in den Achtzigern noch ziemlich viel Freizeit, und der Nachschub an fantastischem Lesestoff riss nie ab. In der Würzburger Stadtbücherei hatte ein gründlicher Bibliothekar einige Dutzend Jugendbücher auf dem Buchrücken mit Aufklebern mit der Aufschrift »Fantastisches« markiert. Ich habe jedes Einzelne davon gelesen. Ich lernte jedoch schnell, dass »Jugendbuch«-Science-Fiction überwiegend minderwertiger Schrott war, dass man näher an die Quellen gehen musste, um an den wirklich guten Stoff zu kommen.
In der Nähe unserer Schule gab es einen merkwürdigen kleinen Laden namens »Hermkes Romanboutique«, eine vom Pfeifenrauch des Besitzers durchzogene dunkle Höhle, in der neue und gebrauchte Science-Fiction- und Fantasy-Bücher, Cartoons, Comics und Rollenspielmanuale verkauft wurden. Die Kunden waren überwiegend männlich und zwischen 15 und 25, trugen Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – oder Schwarz. Die »Romanboutique« war eine Nerd-Hochburg, auch wenn mir diese Kategorie damals nicht in den Sinn gekommen wäre. Auf dem Heimweg von der Schule legte ich dort regelmäßig Zwischenstopps ein, die immer länger dauerten als geplant und mir danach zu Hause Ärger einbrachten. Der Besitzer, ein freundlicher älterer Herr mit Glatze und Vollbart, den seine Stammkunden mit dem Vornamen ansprachen, hatte nichts dagegen, wenn man vor seinen deckenhohen Holzregalen am Boden kauerte und stundenlang in gebrauchten Heften über »Die Legion der Superhelden«, »Die Gerechtigkeitsliga«, Superman oder Batman blätterte, um dann für ein paar Zehnpfennigstücke einen oder zwei Comics zu kaufen. Auf Superhelden waren meine Schwestern und ich während eines Urlaubs in Südfrankreich verfallen, aus Verzweiflung. Der Zeitschriftenkiosk hatte auf Deutsch nur Liebesromane, Westernhefte und eben Comics über Superhelden im Angebot: Superman, Batman, Wonder Woman (auf Deutsch: Wundergirl), Aquaman, Elastoman, Roter Blitz, Atom und Dutzende andere. Lauter muskelbepackte Athleten in fetischhaften, hautengen Kostümen. Wir kauften die Hefte anfangs mit ironischer Pose, das war ja schließlich Trash-Unterhaltung. Am Strand hängten wir uns Handtücher um die Schultern und ließen sie wie Capes im Wind flattern. Irgendwann waren wir so weit, dass wir ernsthaft darüber debattierten, ob es nicht doch akzeptabel wäre, sich ein Batman-Poster in Lebensgröße ins Zimmer zu hängen.
Die Romanboutique erlaubte es, die neu erworbene Sucht für relativ kleines Geld auch zu Hause zu pflegen. Als ich ins Gymnasium kam, war ich in der Lage, detaillierte Erklärungen über die Freundschaftsverhältnisse und Liebesbeziehungen innerhalb der Gerechtigkeitsliga abzugeben, wusste, dass der Rote Blitz Superman unter bestimmten Bedingungen in einem
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