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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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körperlich und geistig unversehrt, sie kriegten immer noch gerade so die Kurve. Dafür gruselten sich die Spieler umso mehr. Wir beleuchteten unsere Spielrunden mit flackernden Kerzen und schnitten Kassetten mit möglichst gruseligen Musikstücken zusammen, von alten Pink-Floyd-Platten zum Beispiel oder aus Film-Soundtracks. »Shine on you crazy Diamond« bekommt einen ganz anderen Klang, wenn währenddessen ein flackernd erleuchteter Spielleiter in langsamen Sätzen beschreibt, dass am Grund des eben frei gelegten Brunnens offenbar die Überreste lebendig verdauter Hühner herumliegen. Einmal ging während so einer Spielrunde in meinem Zimmer knarrend die Tür eines von der Heizungswärme verformten Einbauschranks auf, was allgemeines Entsetzen und einen großen, klebrigen Fantafleck auf dem hellgrauen Teppichboden zur Folge hatte.
    Rollenspiele wurden damals von manchen Zeitgenossen mit dem gleichen Argwohn, der gleichen hysterischen Besorgnis betrachtet wie heute Computer- und Videospiele. Der Chicagoer Psychologe Thomas Radecki etwa verbreitete jahrelang, es gebe 45 Todesfälle, die eindeutig auf »Dungeons & Dragons« zurückzuführen seien, ohne jedoch dafür Belege anzuführen. »Wegen dieses Spiels werden Kinder ermordet«, behauptete Radecki und fand damit bei gewissen US-Medien ein offenes Ohr, »unsere Teens finden nicht mehr aus dem Dungeon heraus.« Heute kann als gesichert gelten, dass das blanker Unsinn ist, und auch damals gab es keine Hinweise auf schädliche Wirkungen des gemeinsamen Erzählens von Fantasiegeschichten. Die Hausfrau und Mutter Pat Pulling, deren vermutlich psychisch kranker Sohn sich das Leben genommen hatte, gründete eine Initiative namens »Bothered About D&D« (BADD), weil sie der Meinung war, ein durch einen Spielleiter ausgesprochener Fluch habe ihren Sohn in den Suizid getrieben. Pulling behauptete sogar, D&D sei von Satanisten konzipiert worden, um für »Vergewaltigungen, Kannibalismus und Nekromantie« zu werben. Dafür erhielt sie viel Unterstützung von der christlichen Rechten in den USA.
    Es erging den Rollenspielen wie nahezu jeder anderen maßgeblich von Jugendlichen gepflegten Subkultur: Sie wurden von Menschen, denen jegliche Betätigung außerhalb ihres eigenen Erfahrungshorizonts suspekt ist, verteufelt und für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht. Was der Begeisterung der Spieler selbst natürlich keinerlei Abbruch tat, im Gegenteil.

Nerd-Kultur wird Popkultur
     
    Die Zahl derer, die in den Achtzigern tief in dieser Nerd-Kultur versanken, ist größer, als man das gemeinhin annehmen würde. Man erkennt sie zum Beispiel daran, dass sie immer den gleichen Witz machen, wenn bekannt wird, dass jemand heiraten will. Irgendeiner wird schief grinsen und sagen: »Ein Ring sie zu knechten, sie alle zu binden . . . « Das Zitat aus dem Eröffnungsgedicht des »Herrn der Ringe« gehört zum Sprachschatz meiner Generation wie Sprüche von Heinz Erhard zu dem der vorangegangenen. Dass es wirklich jeder kennt und erkennt, ist einer Entwicklung zu verdanken, die wir damals nicht voraussehen konnten: Unsere ja doch eigentlich als exklusiv empfundene, als Mittel der Abgrenzung verstandene Beschäftigung mit Science-Fiction, Fantasy, Rollenspielen und Superhelden ist ins Zentrum der Popkultur gerückt. Jeder Taxifahrer weiß heute, wofür die Zahl 42 steht. Als mein Freund Jan einen weltoffenen Deutschreferendar an unserer Schule in der sechsten Klasse überredete »Per Anhalter durch die Galaxis« als Klassenlektüre zu lesen, war das noch ein subversiver Akt (den ich missbilligte, weil ich der Meinung war, das Buch sei nun wirklich nicht für jedermann gemacht). 2005 wurde der Stoff dann verfilmt – und spielte weltweit über 100 Millionen Dollar ein. Und das ist kein Einzelfall.
    2009 war James Camerons »Avatar« der finanziell erfolgreichste Film (und wurde dabei gleichzeitig der erfolgreichste Film der Geschichte), gefolgt von einem »Harry Potter«- einem computeranimierten »Ice Age«- und einem »Transformers«-Film, in dem Nerd-Spielzeug aus den Achtzigern die Hauptrolle spielt. 2010 landete kein einziger Film in den globalen Top Ten, der nicht an Nerd-Instinkte appelliert – Magie, Vampire, Superhelden, Sci-Fi, Animation. Noch deutlicher wird der Effekt, wenn man sich die Liste der umsatzstärksten Produktionen aller Zeiten ansieht: Unter den 30 erfolgreichsten Filmen der Welt ist nur ein einziger, der nichts mit Science-Fiction, Fantasy, Superhelden oder

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