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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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die unauslöschliche Fehlbarkeit des Menschen eingestellt, fast immer bereit, ungeschehen zu machen, was man eben verbrochen hat. Inzwischen hat selbst die Videospielbranche dieses Konzept übernommen: In aktuellen Autorennspielen kann man zurückspulen und nochmal losfahren, wenn man zu schnell war und aus der Kurve geflogen ist. Es ist eine bessere, gnädigere Welt.
    Unsere Eltern hingegen fürchten ständig, einen katastrophalen Fehler zu begehen. Die Beratungstelefonate werden deshalb regelmäßig von erschrockenen, abgerissenen Ausrufen wie »oh nein, jetzt hab’ ich . . . « unterbrochen, von nicht abgesprochenen Panikreaktionen, die alles nur noch schlimmer machen. Die Mittdreißiger von heute reagieren auf die vermeintliche Begriffsstutzigkeit ihrer Eltern manchmal mit Ungeduld, weil deren Unverständnis einfach unverständlich bleibt.
    Dabei waren wir selbst früher auch ziemlich begriffsstutzig. Die Kunst dessen, was man heute »Usability« nennt, war in den Achtzigern nicht sehr weit fortgeschritten, wir aber waren trotzdem längst der Meinung, dass Technik zu gehorchen hatte, ohne dass man ihre Gesetzbücher studierte. Es dauerte eine Weile, bis es wirklich so weit war.
    Eine der schlechtesten Erfindungen in der Geschichte des Unternehmens Microsoft war die animierte Büroklammer, die in »Office«-Produkten ungefragt auftauchte und den Nutzer mit unerwünschten Ratschlägen zur Weißglut trieb: »Anscheinend wollen Sie einen Brief schreiben. Brauchen Sie Hilfe?« Es dauerte zehn Jahre, bis Microsoft die nervige Klammer und die übrigen »Office«-Assistenten endlich beerdigte, obwohl sie direkt nach ihrer Einführung mit Office 97 bereits mit Inbrunst verachtet wurden. Selbst der Zeichner, der »Clippy« auf Deutsch »Karl Klammer« – gestaltete, nennt den digitalen Klugscheißer heute »eine der nervigsten Figuren aller Zeiten«. Clifford Nass, ein Kommunikationsforscher an der Eliteuniversität Stanford, der Clippys Vorgänger »Bob« entworfen hatte, nannte Clippys Verhalten später reumütig »passiv-aggressiv, im schlimmsten Fall schlicht feindselig«. Nass: »Wir wissen, wie wir mit solchen Leuten verfahren. Wir hassen sie.«
    Der ungeliebte »Clippy« hatte mittlerweile Auftritte in Fernsehserien wie den »Simpsons«, Komiker haben Sketche über ihn geschrieben, und es gibt Hunderte von Cartoons, Videos und Texte, in denen er ein grausames Ende findet. In einer besonders brutalen Variante löscht ein entnervter Nutzer zunächst Karl Klammers Frau und Kinder von der Festplatte, die Büroklammer erschießt sich daraufhin, überlebt aber auch das (»Oh, jetzt läuft mir Blut in die Augäpfel«) und wird schließlich von H. P. Lovecrafts Tentakelmonster Cthulu in einen schwarzen Strudel gezerrt. Sogar wissenschaftliche Arbeiten gibt es zu der Frage »Warum die Menschen die Büroklammer hassen«. Die Antwort ist einfach: Computernutzer möchten nicht von einem aufdringlichen digitalen Besserwisser belehrt werden. Sie wollen, dass Software tut, was sie soll, und ansonsten die Klappe hält.
    Inzwischen beugt sich Anwendungssoftware diesen Ansprüchen: Man muss mit ihr umgehen können, ohne etwas nachzuschlagen, der Computer hat sich nach dem Menschen zu richten und nicht umgekehrt. Ohne die ungeschriebenen Gesetze der Usability wäre das WWW von heute undenkbar: Webseiten müssen ohne Anleitung nutzbar sein. So weit war es damals noch nicht. Wenn ich in den Morgenstunden nach einer der nächtlichen PageMaker-Sitzungen erschöpft ins Bett fiel, träumte ich von Mauszeigern, Pixel-Linealen und Aufklappmenüs.

Das Verschwinden des Analogen
     
    Nach dem Abitur absolvierte ich ein Praktikum in der Landkreisredaktion unseres Lokalblatts »Main Post«. Der interessanteste Ort des Redaktionsgebäudes war die Dunkelkammer: Sie war nur über eine Lichtschleuse zu erreichen, eine Röhre, die man von einer Seite betreten und dann von innen drehen musste. Auf der anderen Seite, in einem nur mit einer roten Glühbirne erleuchteten, immer überheizten Raum arbeiteten ausschließlich Frauen, die ich als freundliche, untersetzte Damen mittleren Alters in Erinnerung habe, trotz ihrer finsteren Arbeitsstelle stets gut gelaunt. Ihre Arbeitsplätze existieren heute nicht mehr.
    Die Damen in den weißen Kitteln sind meine privaten Stellvertreter einer großen Gruppe von Menschen: Im Verlauf ihres Arbeitslebens schlug die Digitalisierung zu und veränderte Berufe radikal oder brachte sie komplett zum Verschwinden.

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