Nerd Attack
Gleichzeitig machte diese Veränderung technische Mittel und Möglichkeiten, die zuvor höchstens Profis zur Verfügung gestanden hatten, für eine breite Masse verfügbar. Manchmal gingen die Veränderungen in Privathaushalten und kleinen Unternehmen schneller voran als auf Schlachtschiffen wie der »Main Post«: Die Redakteure dort wären vermutlich dankbar gewesen, wenn sie 1992 schon mit einer Software wie PageMaker hätten arbeiten dürfen, ihr Redaktionssystem war im direkten Vergleich vorsintflutlich. Sogar die Layouts wurden noch von Hand geklebt.
Heute sind die Abstände zwischen den Werkzeugen der Profis und denen der Laien gewaltig geschrumpft. In der Fotografie zum Beispiel. Früher galt es als das große Privileg der Profis, nahezu unbegrenzt viele Aufnahmen von einem Motiv, einem Ereignis machen zu können, um am Ende eine oder zwei gelungene auszuwählen. Im Zeitalter der Digitalkamera und rasant fallender Preise für Speichermedien sind auch für Hobbyfotografen alle Mengenbeschränkungen verschwunden. 500 Bilder kosten nicht mehr als fünf. Ausgaben für Filme, Entwicklung und Abzüge fallen nicht mehr an – außer man möchte doch mal ein Bild ausdrucken und in ein Album kleben oder verschenken. Auch das aber geschieht immer seltener.
Es gibt für diese Entwicklung klare, objektive Anhaltspunkte, etwa den Aktienkurs des einstigen Branchengiganten Kodak: Er fiel allein zwischen den Jahren 2000 und 2010 von über 65 auf unter 4 Dollar. Und es gibt die ganz persönlichen, privaten Anhaltspunkte: All die Fotogeschäfte etwa, die im Laufe der letzten 15 Jahre verschwanden, weil einfach niemand mehr kommt, um Filme zu entwickeln oder Abzüge zu bestellen. Der in ganz Deutschland sichtbare Endpunkt der Blüte der analogen Hobbyfotografie war der Untergang von Photo Porst: Die orangeroten Leuchtbuchstaben der Kette gehörten jahrzehntelang in ganz Deutschland zum Stadtbild selbst kleinerer Gemeinden. 2002 ging das Unternehmen in die Insolvenz, der Markenname an einen Händlerverbund namens Ringfoto, die Rechte für das Bildgeschäft übernahm Kodak.
Die verbleibenden Fotohändler halten sich heute mit Abzügen von auf CDs oder USB-Sticks angelieferten Bildern über Wasser, mit Vergrößerungen, Rahmungen, Passfotoservice. Ihre Kundschaft altert mit ihnen. Ihre Auslagen wirken wie Grüße aus vergangenen Tagen. In Baumärkten findet man nun Automaten des Herstellers Fujifilm, der den schleichenden Untergang der analogen Fotografie weit besser überstanden hat als der Konkurrent Kodak. Sie sehen aus wie Geldautomaten und haben vorne Schlitze für CDs, DVDs, USB-Sticks und ein halbes Dutzend Speicherkartenformate. Über einen Touchscreen kann man Bilddateien auswählen und sie auf der Stelle ausdrucken. Negative gibt es nicht mehr. Dafür braucht es heute keinen Hausbrand mehr, um eine private Fotosammlung zu vernichten. Ein Festplattencrash reicht.
Mein Freund Jan hat sich eine Zeitlang in weiser und leicht morbider Voraussicht als Leichenfledderer dieser sterbenden Branche betätigt. Immer wenn er an einem schließenden Fotoladen vorbeikam, bat er um die Überreste der Schaufensterdekorationen und andere übrig gebliebene Bilder. Man sieht darauf grauenvolle Frisuren, gewaltige Brillengestelle, wild gemusterte Pullover, Hochzeitspaare mit kieferorthopädischem Optimierungsbedarf. Verblassende, wellig gewordene Zeugnisse einer untergegangenen Epoche.
Es ist unmöglich herauszufinden, wie viele Fotos heute jeden Tag gemacht werden, aber es dürften um Zehnerpotenzen mehr sein als 1990. Nicht nur, weil in jedem Handy eine Digitalkamera steckt und praktisch jedes Ereignis von minimaler persönlicher Relevanz fotografisch dokumentiert wird, sondern auch, weil man im Urlaub heute nicht, sagen wir mal, fünf Filme à 36 Bilder vollknipst, sondern 2000 oder 3000 Digitalbilder schießt. Menschen, die in Großstädten leben, blieben früher gelegentlich stehen oder machten einen Bogen, damit ein Tourist seine Gattin vor einer Sehenswürdigkeit fotografieren konnte. Inzwischen verschwindet diese Höflichkeitsgeste langsam: Erstens würde ein Spaziergang in einer Innenstadt sonst wegen der allgegenwärtigen Fotografiererei zum Stop-and-Go oder zum Slalom, und zweitens ist es egal, wenn eine Aufnahme ruiniert wird – die nächste kostet ja auch nichts.
Ambitionierte Hobbyfotografen quälten ihr Umfeld einst gern mit Diaabenden, auf denen sie schlimmstenfalls ein paar hundert Urlaubsbilder vorführten. Heute sind
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