Nerd Attack
In einem Interview mit dem SPIEGEL sagte Kapor 1994: »Elektronische Post wird das nächste große, universelle Kommunikationsmedium sein.« Die Redakteure fragten ungläubig zurück, wozu man da denn einen Computer brauche, »wo es doch das Telefon gibt«. Alternativ könne man schließlich auch einen Brief schreiben.
E-Mail, Netzzugang und die Möglichkeit, selbst zu publizieren – heute ist das selbstverständlich. Doch damals hätte die Entwicklung digitaler Kommunikationsnetze auch noch in eine ganz andere Richtung laufen können. Dass es so und nicht anders kam, dass Kabelnetzbetreiber, Telekommunikationsunternehmen und andere Interessenten den Cyberspace nicht von vornherein nach ihren Gesetzen aufteilten und ihre Regeln für alle verbindlich machten, dazu trug Kapor mit klassischer Lobbyarbeit bei: Im Jahr 1993 hatte sein Wort auf den Fluren der Macht in Washington bereits so viel Gewicht, dass er eingeladen wurde, gemeinsam mit dem damaligen Vizepräsidenten Al Gore eine Strategie für die digitale Zukunft zu entwerfen. Als Gore seine »National Information Infrastructure« der Öffentlichkeit präsentierte, ließ er es sich nicht nehmen, auf seinen Co-Autor Kapor zu verweisen. Ein Kerngedanke des Papiers übertrug das Tabula-rasa-Prinzip des leeren Bildschirms mit unbeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten auf die Architektur des Internets: Ein Schlüsselwort des neuen Plans für die vernetzte Zukunft lautete »Open Platform«. Das Internet sollte für jedermann zugänglich sein, die Protokolle, auf denen es basierte, offen und öffentlich bleiben, damit jeder darauf zugreifen und Datenübertragungen darüber abwickeln könne. Jeder sollte einen Internet-Server betreiben, jeder einen Knotenpunkt im globalen Netz schaffen können (sofern er die nötigen finanziellen Mittel besaß). Genauso kam es, trotz des Widerstands etwa der US-amerikanischen Kabelnetzbetreiber, die gerne jeden Haushalt mit Settop-Boxen für Fernseher ausgestattet hätten, über die man auf ihr Internet hätte zugreifen können, in dem Datenaustausch und Erstellung von Inhalten nach ihren Regeln hätten ablaufen müssen. Das wäre dann in etwa so gewesen wie BTX, mit einem Kästchen mit Knöpfen für ja, nein, kaufen.
Nun aber setzte sich die Idee eines offenen Internets mit gleichberechtigtem Zugang für alle durch, auch wenn die konkrete Ausgestaltung ab 1995 in erster Linie den Unternehmen überlassen wurde. Mit seinem »High Performance Computing and Communications Act« hatte der Demokrat Gore bereits 1991 die Grundlagen für die Netzpolitik der kommenden Jahre gelegt – und das unter der Regierung des Republikaners George Bush senior. Unter anderem ermöglichte das Gesetz die staatlich geförderte Forschungseinrichtung, in der dann unter der Führung von Marc Andreessen der erste Webbrowser Mosaic entwickelt wurde. Gore hatte schon in den Achtzigern begonnen, den Wissenschaftlern, die das frühe Internet am Laufen hielten, sehr genau zuzuhören. Mit Kapor hatte er einen Berater gefunden, der sowohl die unternehmerische Seite des Ganzen verstand, als auch ein sicheres Gespür dafür hatte, wie viel Offenheit und Freiheit eine solche Architektur brauchte, um ein bisschen von der Magie von The Well einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Netzwerk, das als Arpanet unter primär militärischer und wissenschaftlicher Ägide begonnen hatte, war im Herbst des Jahres 1990 noch eines von vielen. Es umfasste gerade einmal 313 000 Rechner. 1996 waren es bereits knapp zehn Millionen.
Gore, Kapor, Barlow und die EFF hatten maßgeblichen Anteil daran, dass das Internet die offene, einheitliche Plattform geworden ist, die wir heute für selbstverständlich halten, dass wir keine proprietären, von einzelnen Unternehmen kontrollierten Netze haben, wie sie damals gang und gäbe waren. Aus heutiger Sicht erscheint es wie ein Wunder, dass Kapor seine von der Hacker-Ethik inspirierte Vision dieses offenen, hierarchiefreien Internets gegen die Interessen all der mächtigen Konzerne durchsetzen konnte. In den geschlossenen Netzen, wie sie etwa von Compuserve und AOL betrieben wurden, mit eingeschränktem Zugang zum »echten« Internet, wäre niemals Wikipedia entstanden, kein Napster, kein Skype und kein Twitter. Ohne die Anwendung des Tabula-rasa-Prinzips auf die Vernetzung unserer Rechner gäbe es heute vermutlich auch keine digitalen Widerstandsmittel in den Händen der Unterdrückten in Ländern wie Iran oder China – aber wohl
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