Nerd Attack
Freiheit entlassen«. Was vor allem zählt, ist die möglichst frühzeitige Veröffentlichung, zunächst nur für die Mitglieder der Szene selbst. Wer einen Film, ein Spiel, eine LP zuerst verfügbar macht, hat gewonnen. Auf Filme spezialisierte Release-Gruppen etwa wetteifern darum, Hollywood-Produktionen noch vor dem eigentlichen Kinostart als Digitalkopie verfügbar zu machen.
In einem Interview mit der Computerzeitschrift »C’t« erklärte ein Szenemitglied mit dem nur für dieses Gespräch gewählten Pseudonym »Predator« im Jahr 2004: »Die Gruppen sehen ihr Handeln als Sport. Jedes Spiel ist für uns ein Rennen, aus dem die Group als Sieger hervorgeht, die zuerst eine funktionsfähige Schwarzkopie vorstellt.« Belohnt würden die Mitglieder nicht durch Geld, sondern durch »die Anerkennung der Szene«.
Diese seltsame Szene ehrenamtlicher Krimineller steht mittlerweile seit vielen Jahren unter polizeilicher Beobachtung und arbeitet deshalb mit geheimdienstartigen Methoden. Die sogenannten Topsites, auf die nur verifizierte Szenemitglieder Zugriff haben, sind streng abgeschottet. Innerhalb der Gruppen gibt es eine klare Hierarchie und genaue Aufgabenverteilung: Ein oder zwei Anführer dirigieren ein oder zwei Dutzend Cracker, dazu gibt es »Kuriere«, deren Aufgabe ausschließlich darin besteht, neue Releases so schnell wie möglich auf den geheimen Servern der Szene zu verteilen. Für jede Kategorie gibt es eigene Ranglisten, die wöchentlich aktualisiert und in eigenen digitalen Szenemagazinen veröffentlicht werden. Die Release-Szene ist organisiert wie eine komplexe, globale Sportliga mit eigenem Regelwerk: Es gibt lange Listen mit konkreten Anweisungen, die für unterschiedliche Arten von Releases zu beachten sind, etwa dass ein Spiel sich von der Festplatte starten lassen muss, ohne dass eine CD im Laufwerk liegt, oder wie groß eine Videodatei maximal zu sein hat.
Jan Krömer und Evrim Sen, Autoren des Buches »No Copy – die Welt der digitalen Raubkopie«, benennen das Paradoxe an dieser organisierten, aber weitgehend nichtkommerziellen Aktivität: »Kriminelle Vereinigungen, die Profit aus ihrem Tun schlagen, erlassen keine strikten Richtlinien, um einen fairen Wettkampf zu gewährleisten. Eine organisierte Verbrecherversammlung, die festlegt, mit welchen Werkzeugen man Türen aufbrechen darf und mit welchen nicht, um am Ende dem Besten unter ihnen die verdiente Anerkennung zukommen zu lassen, wäre undenkbar. In der Release-Szene ist eine solche Vorgehensweise dagegen üblich.«
Noch immer spielen die sogenannten Supplier eine zentrale Rolle: Die erfolgreichsten Release-Gruppen setzen bei der Materialbeschaffung auf Insider, auf Menschen, die in Press- oder Kopierwerken arbeiten, in Synchronstudios oder Unternehmen, die auf Untertitelung von Filmen spezialisiert sind. Einer der Männer, die aufgrund der »Operation Fastlink« des FBI verurteilt wurden, hatte für ein Computerspielmagazin gearbeitet und seine Vorabtestmuster stets bereitwillig an seine Szenekontakte weitergereicht. Die Qualität der Lecks, aus denen eine Gruppe ihren Nachschub bezieht, entscheidet auch über die Qualität ihrer Releases und damit über ihren szeneinternen Status. Nur um den geht es, glaubt man »Predator«: »Ich brauche nur Anerkennung von Personen, die auf meinem Level stehen. Dagegen brauchen Website-Betreiber, die Group-Releases [Veröffentlichungen von Release-Groups] ins Netz stellen, Publicity.« Mit anderen Worten: Zumindest manche innerhalb der Szene betrachten die Verbreitung der Früchte ihrer eigenen Arbeit an Normalsterbliche tatsächlich als parasitär. Ihr Sport besteht im Besorgen, Knacken, anderen Szenemitgliedern verfügbar Machen. Die kostenlose Belustigung all der anderen ist bestenfalls ein Nebeneffekt. Am alten Elitedenken der Cracker-Gruppen von damals hat sich also nichts geändert. »Predator« machen Seiten, die Szene-Releases zum Download für jedermann zur Verfügung stellen, regelrecht aggressiv: »Hätte ich die Bandbreite, würde ich solche Web-Angebote mit Denial-of-Service-Attacken strafen.« Das sind Angriffe, bei denen Server mit gezielten Anfragen von Tausenden, manchmal Zehntausenden ferngesteuerten Rechnern überlastet werden, bis sie schließlich ihren Dienst versagen (Denial of Service, abgekürzt DoS = Dienstverweigerung).
Solche Äußerungen haben wohl nicht zuletzt die Funktion der Selbstrechtfertigung, denn die meisten Releases geraten in aller Regel in kürzester
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