Nerd Attack
der »Bild«-Zeitung kurzzeitig aus dem Programm genommen wird, weil der Konzern von Steve Jobs keine blanken Brüste auf seinen Endgeräten sehen will. Mit Microsofts Xbox 360 kann man zwar in eigenen Apps Twitter und Facebook aufrufen, aber keine normalen Websites. Amazons Kindle kann gar nur über einen »experimentellen« Browser auf das WWW zugreifen, ansonsten nur auf den hauseigenen Download-Shop für Bücher. Sämtliche Geräte liefern ihren Schöpfern zudem fortwährend Daten über ihre Benutzer. Apple-Handys erfassen (anonymisiert) den Standort ihres Besitzers, Sony behält sich in seinen Geschäftsbedingungen das Recht vor, jedes über das Playstation-3-Spielernetzwerk geführte Gespräch mitzuhören. Für das Microsoft-Netzwerk Xbox Live gilt dasselbe. Dass all diese Dienste aufzeichnen, was man wann kauft, versteht sich von selbst. Die geschlossenen Ökosysteme mit eigener Hardware sind für ihre Betreiber nicht zuletzt gigantische Marktforschungswerkzeuge.
Ein extremes, aber bezeichnendes Beispiel für die Macht der Konzerne in den neuen digitalen Ökosystemen lieferte Amazon ausgerechnet anhand von George Orwells Überwachungsdystopie »1984«. An einem Donnerstag im Juli 2009 mussten die Käufer der elektronischen Version dieses Buchs für Amazons Lesegerät Kindle plötzlich feststellen, dass es von ihren Geräten verschwunden war. Für einen der Käufer erwies sich die Sache im Nachhinein als Glücksfall: Justin Gawronski hatte seinen Kindle dazu benutzt, elektronische Notizen zu seiner Schullektüre anzulegen. Die mit der Löschung des Buchs wertlos gewordenen Hausaufgaben dürften als die teuersten der Welt in die Geschichte eingehen: 150 000 Dollar bekamen der Schüler und seine Anwälte von Amazon. Die Kanzlei, die den Fall des 17-Jährigen übernommen hatte und die außergerichtliche Einigung erstritt, verwies auf »umfangreiche Notizen«, die Amazon mit der Digitalkopie von »1984« zwar nicht gelöscht, aber durch das Verschwinden des Bezugstextes unbrauchbar gemacht habe. Ref 16
Warum aber hatte Amazon die doch im eigenen Online-Shop erworbenen Orwell-Ausgaben überhaupt entfernt? Es hatte sich herausgestellt, dass sie gar nicht hätten verkauft werden dürfen, weil der Verlag nicht die Rechte für den elektronischen Vertrieb besaß. Die Käufer hatten unwissentlich Raubkopien erworben.
Wäre das in einem herkömmlichen Buchladen geschehen, hätten die Käufer es vermutlich nie erfahren. Ein Buchhändler, dem der Fehler unterlaufen wäre, vorübergehend Raubdrucke zu verkaufen, würde kaum in die Wohnungen seiner Kunden eindringen, das Buch aus dem Regal ziehen und anschließend den Kaufpreis abgezählt auf den Küchentisch legen. Im realen Leben scheitert so etwas an praktischen und rechtlichen Hürden. Elektronisch ist es kein Problem. Amazon-Gründer Jeff Bezos entschuldigte sich schließlich persönlich und nannte die Löschaktion »dumm, gedankenlos und schmerzhaft im Widerspruch zu unseren Prinzipien«. Doch der Präzedenzfall war geschaffen.
Das Beispiel verdeutlicht, was unser aller Leben in den kommenden Jahren und Jahrzehnten dramatisch verändern könnte: Im Zeitalter digital vernetzter Geräte sind Werte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, der Schutz des Privateigentums oder das Briefgeheimnis nicht mehr viel wert. Spielkonsolen, Blackberrys, iPhones, Windows-PCs, Apple-Rechner, Blu-ray-Player – digital dauerhaft oder gelegentlich mit dem Hersteller verbundene Geräte können per Software-Update jederzeit aus der Ferne modifiziert werden. Ein iPhone, könnte man auch sagen, gehört einem längst nicht so sehr wie ein Kühlschrank oder Fahrrad. Wir hängen alle an der Leine der Konzerne. Außer man verlässt sich auf die Tricks freiheitsliebender Hacker, die Steven Levys prophetische Gebote weiterhin ernst nehmen und verlässlich jedes gefesselte Gerät früher oder später befreien: »Der Zugang zu Computern und auch sonst allem, was einem etwas über die Funktionsweise der Welt beibringen könnte, soll unbegrenzt und vollständig sein. Der Imperativ des eigenhändigen Zugangs muss herrschen!« Ref 17
Wer allerdings seine Spielkonsole mit einem eingelöteten Chip so modifiziert, dass sie auch Raubkopien abspielen kann, wer sein iPhone mit einem passenderweise »Jailbreak« (Gefängnisausbruch) genannten Programm von den Software-Beschränkungen befreit, die Apple verfügt hat, der macht sich angreifbar: Er verstößt gegen die Regeln der Konzerne, verliert damit jeden
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