Nervenflattern
Aufsichtsratsvorsitzende. Aber es ist jedes Mal das Gleiche; die Ausgaben werden größer, die Einnahmen kleiner. Seit ich die Documenta als Frau des OB erlebe, gibt es immer eine gewisse Angst vor der Deckungslücke im Etat.«
Sie küsste ihn auf den Hals.
»Aber wenn es nun gar nichts mit der Documenta zu tun hat? Es könnte sein, dass irgendwelche Terroristen dafür verantwortlich sind. Rechte, Linke, Fundamentalisten, was weiß ich?«
»Dann stellt sich die alte Frage ›cui bono?‹, wem nützt es? Für uns Polizisten ist die Frage nach dem Motiv immer genauso spannend wie die Frage nach dem Täter. Also, wem nützt es?«
»Ich weiß es nicht, Paul. Und offengestanden werde ich jetzt auch müde. Zu müde, um in dieser Nacht deinen Fall zu lösen. Wollen wir eine Stunde schlafen und dann losfahren?«
»Ich würde gerne morgen früh mit dir auf den Markt gehen.«
Sie lachte laut los.
»Da werde ich schlagartig wieder munter. Ich könnte den anderen Markthallenbesuchern sicher erzählen, dass die Frau des Bürgermeisters jetzt einen Bodyguard hat, aber Erich würde das bestimmt nicht schlucken.«
Sie drückte ihn an sich.
»Es ist ein reizvoller Gedanke, aber er ist in dieser Welt leider nicht zu realisieren. Wir können uns dort zufällig über den Weg laufen, wie es schon öfter passiert ist, aber zusammen hingehen muss leider ausfallen.«
»Irgendwann willst du mal, dann werde ich dich genauso zappeln lassen«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen.
Dann nahm er sein Mobiltelefon vom Tisch, gab eine Weckzeit in 90 Minuten ein und legte sich wieder neben sie.
»Solange Erich OB ist, musst du genauso geduldig sein wie ich. Wenn das mal anders ist, werden die Karten neu gemischt.« Sie grinste ihn an. »Aber bis dahin bist du sicher schon zu alt für so eine attraktive Frau wie mich. Dann nehme ich mir einen neuen, jüngeren Liebhaber.«
Er kniff sie zärtlich in den Po, spürte ihre Brüste und seine wieder aufkeimende Erregung. Zwei Minuten später saß sie mit weit gespreizten Beinen auf ihm.
Als sein Telefon das eingestellte Signal zum Wecken startete, standen beide schon im Flur und verabschiedeten sich voneinander. Wie immer würde Lenz noch 10 Minuten warten und dann ebenfalls die Praxis verlassen. Maria zog ein Kopftuch über, das sie sowohl vor den neugierigen Blicken früh aufgestandener Fritzlarer als auch vor dem Fahrtwind in ihrem Cabrio schützte.
»Wir telefonieren.«
»Ja, wir telefonieren.«
Er nahm sie noch einmal zärtlich in den Arm.
»Ich dich auch«, flüsterte sie und ging.
13
Am Horizont brach der Tag an, als Lenz ins Auto stieg. Während er den Motor startete, wurde ihm klar, dass er überhaupt keine Lust hatte, jetzt auf die Autobahn zu fahren und dem kürzesten Weg nach Kassel zu folgen. Er verließ Fritzlar nach Süden und fuhr mit geöffneten Scheiben Richtung Bad Wildungen. Dann schwenkte er auf die Straße ein, die zum Edersee führt. Über Lieschensruh und Hemfurth erreichte er den Stausee. Auf dem Parkplatz an der riesigen Sperrmauer stellte er den Corsa ab, setzte sich auf eine Bank, hörte dem Zwitschern der Vögel zu und zündete sich eine Zigarette an.
Möglich, dass irgendwo in der Gegend ein Mensch herumläuft, von dem eine riesige Bedrohung ausgeht. Möglich, dass es Tote gab oder geben wird oder die Documenta abgesagt werden muss. An diesem Morgen interessiert es mich nicht. Es interessiert mich nicht, weil ich glücklich bin, dachte er.
Um Viertel nach sechs kam er an der Markthalle in Kassel an. Auf der Freifläche bauten die Anbieter von Obst und Gemüse aus der Region gerade ihre Stände auf. Er ging in die Halle und sah sich um. Trotz der unchristlichen Uhrzeit waren schon viele Besucher am Schauen oder Einkaufen.
»Ciao, Commissario«, begrüßte ihn der junge Italiener am Stand gegenüber dem Eingang, bei dem er gerne Schinken und Käse kaufte.
»Cappuccino, come sempre?«
»Ciao Enzo. Ja, Cappuccino, wie immer.«
Irgendwann mit den Jahren, in denen Lenz den Markt besuchte und beim Italiener einkaufte und seinen Kaffee trank, hatte der Junge herausgefunden, womit Lenz sein Geld verdiente. Seitdem war die Begrüßung immer die gleiche. Vorher wurde er, wie die meisten anderen auch, mit Professore, Dottore oder Avvocato begrüßt, jetzt war er der Commissario.
Lenz trank seinen Cappuccino, kaufte noch einige Lebensmittel fürs Wochenende und zahlte. Den Rest würde er später im Supermarkt holen. Jetzt war er hundemüde und wollte ins
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