Nervenflattern
Gerät ans Ohr.
»Das hat ja ewig gedauert«, meldete sie sich hörbar genervt.
Oh je, dachte Lenz, dessen Vorfreude einen Tritt in die Magengrube bekommen hatte.
»Hallo, Maria, ich freue mich auch, deine Stimme zu hören.«
»Ich sitze seit einer halben Stunde vor dem blöden Telefon und warte auf deinen Anruf. Immer lässt du mich warten. Erich ist ein Arsch, und manchmal glaube ich, du bist auch nicht besser.«
Lenz liebte diese Frau, wie er noch niemals zuvor jemanden geliebt hatte. Er liebte sie mit ihren grau schimmernden Haaren, die sie regelmäßig färben ließ, den kleinen Fältchen, die ihre Augen umspielten, und ihren Macken, von denen er eine gerade jetzt wieder erlebte. Wenn sie sich über etwas geärgert hatte oder sie sich ungerecht behandelt fühlte, konnte Maria Zeislinger die Welt dafür in Haft nehmen und zur größten Zicke des Universums mutieren. Lenz schätzte diese Kapriolen nicht, aber er wusste, dass dies der Teil von ihr war, den er ertragen musste, wenn er den Rest haben wollte. Und er hatte gelernt, dass diese ›fünf Minuten‹, wie er es nannte, schnell vorübergingen.
»Sei nicht ungerecht, Maria. Ich hatte hier die Hütte voll und konnte einfach nicht vorher anrufen. Heute war wirklich die Hölle los.«
»Bei mir war auch viel los. Aber irgendwie scheint das niemanden zu interessieren, auch dich nicht.«
Dann war die Leitung tot. Lenz sah auf das Display.
Verbindung beendet, las er.
Auch das war nichts Neues für ihn. Das Telefon würde in spätestens 10 Minuten klingeln und eine zerknirschte Maria um Verzeihung bitten. Er zündete sich eine Zigarette an, legte die Beine hoch, dachte nach und wartete. Nach dem dritten Zug kam der Anruf. Er ließ es fünfmal klingeln, dann nahm er das Gespräch an.
»Ja.«
»Es tut mir leid. War nicht so gemeint, wirklich.«
»Schon gut. Aber du kannst einem wirklich auf die Nerven gehen mit deinen Zickereien.«
»Ich weiß. Aber ich kann nichts dazu. Es ist dann einfach so.«
»Es ist dann einfach so«, ahmte er ihren kindlichen Tonfall nach.
»Verarsch mich nicht, sonst fange ich gleich wieder damit an.«
»Gott bewahre. Ich glaube, du wolltest mir vor deinem Zickenanfall freudestrahlend erzählen, dass dein Mann nach Berlin fährt und du dich auf den Abend mit mir freust.«
Für ein paar Sekunden war Stille in der Leitung.
»Woher weißt du denn das schon wieder?«
»Ich bin Polizist. Ich werde dafür bezahlt, alles zu wissen.«
»Du weißt aber bestimmt noch nicht, dass Erich heute einen Brief bekommen hat, der wie ein Erpresserbrief aussieht, aber vermutlich keiner ist. Er ist sogar in Englisch geschrieben.«
»Und woher weißt du davon?«
»Er hat ihn mir gezeigt.«
»Er hat was?« Lenz war aufgesprungen.
»Reg dich doch nicht so auf. Er hat sich eine Kopie davon gemacht, bevor er das Schreiben zu deinen Kollegen gebracht hat.«
Dieser verdammte Idiot, dachte Lenz.
»Kein Problem. Ich reg mich ab.«
»Und was ist mit heute Abend? Sehen wir uns?«
»Natürlich sehen wir uns. Ich erwarte dich ab neun.«
»Neun ist gut. Bis dahin.«
12
Um Viertel nach acht saß Lenz in einem Opel Corsa von ›Stattauto‹, dem Kasseler Car-Sharing-Unternehmen, bei dem er seit einigen Jahren Mitglied war. Als überzeugtem Bahnfahrer wäre ihm ein eigenes Auto nie in den Sinn gekommen, zumal auch der öffentliche Nahverkehr in Kassel sehr gut ausgebaut war. Aber für die Treffen mit Maria brauchte er ein Auto.
Als die Geschichte mit ihr vor mehr als sechs Jahren begann, war es für die beiden nicht leicht, einen Ort zu finden, der ihrem Wunsch nach größter Diskretion gerecht wurde. Als er dieses Dilemma an einem der sehr seltenen, aber immer höchst unterhaltsamen Abende mit Christian, einem guten Freund aus Fritzlar, ansprach, hatte der die rettende Idee. Christian verdiente seinen Lebensunterhalt als Psychiater und bot ihm an, sich mit Maria in seiner Praxis zu treffen. Die lag in einem anonymen Geschäftshaus im Stadtkern, in dem sich nach acht Uhr abends niemand mehr aufhielt. Lenz bekam einen Schlüssel und den Reinigungsplan der Putzfrau und hatte seitdem keine Probleme mehr, einen diskreten Treffpunkt für sich und die Frau des Kasseler Oberbürgermeisters zu finden.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz stand ein Pappkarton, gefüllt mit einer Flasche Champagner und einigen Kleinigkeiten zum Essen. Er fuhr die Frankfurter Straße entlang, bog am Auestadion auf den Autobahnzubringer ab und war kurze Zeit später auf der
Weitere Kostenlose Bücher