Nervenflattern
Holländischen Platz auf die vierspurige Ausfallstraße ab, die von Straßenbahnschienen in der Mitte geteilt wurde. Lenz sah links die spanische Gaststätte, von der Brills Partner gesprochen hatte.
›Casa Manolo‹, las er auf dem Werbeschild.
Im Autoradio spekulierte der Hessische Rundfunk, ob unter den gegebenen Bedingungen eine Absage der Documenta nicht die einzig denkbare Lösung wäre. Er schaltete das Gerät aus.
»Welche Hausnummer?«, fragte Hain, als sie von der Wiener Straße in den Struthbachweg einbogen. Lenz kramte umständlich nach dem Zettel, auf dem er die Adresse notiert hatte.
»37, ganz da hinten«, antwortete er seinem Kollegen und deutete mit der Hand auf ein gelb gestrichenes Gebäude.
Hain steuerte den Wagen auf einen Parkplatz vor dem Haus und beide stiegen aus. Lenz sah sich um. Hier wohnten Menschen, die sich die Mieten in den besseren Stadtteilen nicht leisten konnten oder wollten, aber alles sah sehr gepflegt aus. Die Wohnblocks standen etwas nach hinten versetzt, jeder hatte zwei Eingänge. Der, vor dem sie jetzt standen, trug vorne die Nummer 37.
»Ich …«, wollte Lenz gerade einen Satz beginnen, als der Sohn von Ümit und Ayse Bilicin in der Haustür auftauchte. Der Türke sah die Polizisten, blieb für den Bruchteil einer Sekunde stehen und rannte dann in die entgegengesetzte Richtung davon.
»Was soll das jetzt schon wieder?«, fragte Hain, bevor seine Polizisteninstinkte griffen und er die Verfolgung aufnahm.
»Das ist einer der Söhne von Bilicin«, rief Lenz, der ebenfalls losrannte, aber nur wenige Meter mithalten konnte. Hain war früher aktiver Leichtathlet gewesen und noch immer bestens trainiert. Davon ahnte der junge Türke nichts, als er um die Hausecke bog und über die Wiese auf den nächsten Wohnblock zulief. Auch nichts davon, dass Hain seit dem Ende seiner Leichtathletikkarriere ein begeisterter Karatekämpfer war. Lenz konnte zusehen, wie der Vorsprung des jungen Türken kleiner wurde, obwohl er gut in Form zu sein schien. Der nasse Rasen verursachte bei jedem Schritt ein klatschendes Geräusch unter seinen Sohlen. Am Ende des nächsten Hauses lag Hain nur noch etwa sechs Meter zurück. Bilicin bog nach rechts ab und lief hinter dem Haus entlang. Lenz verlor die beiden an der Hausecke aus dem Blick. Als er sie wieder sehen konnte, hob Hain gerade vom Boden ab und überwand mit einem Sprung den letzten Meter zwischen sich und dem Türken. Er griff im Fallen nach den Beinen des Jungen und bekam eins zu fassen. Beide stürzten, sich spektakulär überschlagend, auf die Wiese. Hain war viel schneller wieder auf den Beinen, griff sich keuchend den noch am Boden liegenden Bilicin und drehte ihm einen Arm auf den Rücken. Dann fasste er routiniert zu seinem Gürtel, nahm das dort eingehängte Paar Handschellen und klickte das Handgelenk fest. Er zog den anderen Arm daneben und band die Hände zusammen. Nun lag der junge Türke mit dem Gesicht nach unten im Gras und stöhnte. Hain stand auf, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. Lenz hatte sie erreicht und stellte sich in der gleichen Haltung neben ihn.
»Was war denn das für eine Nummer?«, fragte der noch immer keuchende Hain. Lenz sah ihn mit zusammengebissenen Zähnen an.
»Moment«, presste er hervor.
Bilicin versuchte sich aufzurappeln und auf die Knie zu setzen. Hain sprang neben ihn und warf ihn um.
»Liegenbleiben!«, befahl er.
Lenz sah auf den am Boden Liegenden.
»Das ist ein Sohn der Bilicins. Seinen vollen Namen wird er uns sicher gleich sagen.«
Er hob die Stimme.
»Und er wird uns sicher auch verraten, warum er hier den Sprinter gespielt hat.«
Er beugte sich zu dem jungen Mann hinunter.
»Ich höre?«
»Kann ich aufstehen?«
Lenz sah Hain fragend an. Der hatte den Kopf nach hinten gelegt, weil er schon wieder aus der Nase blutete, war von oben bis unten mit Dreck beschmiert und sah fürchterlich aus.
»Sag ihm, wenn er Blödsinn macht, hau ich ihm eine runter. Ich hab mir schon wieder die Nase angeschlagen, so langsam geht mir das echt auf die Nerven. Beim nächsten Mal lasse ich dich vorrennen.«
»Dann können wir uns die Arbeit sparen und schreiben ihn einfach zur Fahndung aus. Du hast doch gesehen, wie ich hier angekommen bin. Und vor allem wann.«
»Kann ich jetzt aufstehen?«
Lenz half dem Jungen auf die Beine. Seine schwarzen Haare starrten vor Schmutz und an seiner Kleidung hingen Grasreste.
»Mein Arm tut weh.«
»Meine Nase auch«, gab Hain mitleidslos
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