Nervenflattern
hinzu.
»Es kommt sicher nicht oft vor, dass Akten verschwinden?«
»Nein, das nicht. In den letzten 11 Jahren, seit ich hier arbeite, ist es auf jeden Fall noch nie vorgekommen. Und es ist mir offen gesagt auch ziemlich peinlich. Was sollen Sie denn jetzt von mir denken?«
»Sie haben die Akte ja nicht vertrödelt, nehme ich an. Also müssen Sie sich auch keine Vorwürfe machen.«
Er stand auf und reichte ihr seine Visitenkarte.
»Wenn Sie fündig werden und die Akte wieder da ist, können Sie mich gerne anrufen. Vielleicht brauchen wir dann immer noch Frau Tauners Bild. Für jetzt haben Sie uns sehr geholfen, Frau Weil. Und ich versichere Ihnen noch einmal, dass von unserem Gespräch nichts nach außen dringt.«
Sie nickte.
»Sonst könnte ich mir wahrscheinlich einen neuen Job suchen. Und wie gesagt: Ich mag meinen hier sehr gerne. Wenn nur nicht die ganze Politik wäre, die alles immer so kompliziert und so ungerecht macht.«
Die junge Frau überlegte einen Moment.
»Ich glaube, ich habe Ihnen das alles erzählt, weil ich es letztes Jahr schon so ungerecht fand, wie man mit der Tauner umgesprungen ist. Und es ist in der Zwischenzeit auch nicht besser geworden. Und wenn Sie es für sich behalten, bin ich froh, dass ich es mal jemandem erzählen konnte.«
»Versprochen«, beruhigte der Hauptkommissar sie noch einmal.
35
»Ich hab die ganze Zeit in meinem Hirn nach dem Begriff gesucht, der auf diesen Saustall passt«, schnaubte Hain.
Sie standen am Hinterausgang des Rathauses. Lenz rauchte eine Zigarette, während sein Kollege versuchte, ein Wort aus seinem Hinterkopf zu wühlen, das ihm partout nicht einfallen wollte.
»Es gibt einen. Fängt mit A an und liegt mir auf der Zunge, verdammt noch mal.«
Lenz drückte seine gerade angezündete Zigarette in den großen Sandkübel neben ihm.
»Augiasstall«, half er Hain auf die Sprünge.
»Genau. Ein Augiasstall ist das. Wenn die ganze Sache mit der Tauner erledigt ist, sollten wir uns mal im Veterinäramt umsehen, was meinst du?«
Der junge Kommissar war wirklich wütend.
»Ich widerspreche dir ungern, aber wir sind für Gewaltkriminalität zuständig. Vielleicht geben wir besser den Kollegen von ZK20 einen Tipp. Amtsdelikte sind deren Geschäft.«
»Von mir aus. Aber dafür würde ich auch meine Freizeit opfern.«
»Lass uns zuerst unseren Job erledigen, der hat im Moment Priorität.«
Er klopfte seinem Kollegen väterlich auf die Schulter.
»Und jetzt gehen wir rüber zum Kreishaus und sprechen noch mal mit dem netten Leiter des Jugendamtes.«
Zu Lenz’ Erstaunen fing Hain nicht sofort wegen des Fußmarsches an zu nölen, sondern erst nach 200 Metern. Trotzdem standen sie fünf Minuten später vor Vockeroths Bürotür.
»Sie hätte ich heute auch noch angerufen«, empfing Vockeroth die Kriminalbeamten und bot jedem einen Stuhl an.
»Weil Sie einen Kevin gefunden haben«, erwiderte Lenz wissend.
»Das nimmt mir jetzt aber die Freude an meiner guten Arbeit, Herr Kommissar.«
Lenz grinste.
»Erzählen Sie uns von Ihrem Kevin, Herr Vockeroth.«
»Mein Kevin heißt hinten Tauner und ist jener Fall, den Hainmüller dem armen Herrn Brill im letzen Jahr entzogen hat. Im Anschluss beantragte er sofort den Entzug des Sorgerechts in einem Eilverfahren und ist damit auch durchgekommen, inklusive Umgangsverbot, was mich hier schon wundert. Kevin lebt jetzt bei seinem Vater und seiner Stiefmutter am Brasselsberg.«
Er zog eine Akte aus dem Stapel auf seinem Tisch und schlug sie auf.
»Das hier ist der Fall. Ich habe ihn durchgesehen, formal ist an der Entscheidung Hainmüllers nichts auszusetzen. Wobei ich rein menschlich sicher auch zu einem anderen Urteil gekommen wäre und der Frau eine weitere Chance zugebilligt hätte.«
»Haben Sie Frau Tauner jemals kennengelernt?«
»Nein. Sie hat, nachdem der Familienrichter die Entscheidung getroffen hatte, mit uns nichts mehr zu tun gehabt. Erst im Fall einer Klage gegen das Urteil wären wir wieder ins Spiel gekommen, aber sie hat nach meinem Aktenstand nicht geklagt. Und vorher habe ich sie auch nicht kennengelernt.«
Er sah noch einmal in die Akte.
»Die Frau hat eine rasante Entwicklung durchgemacht. Jahrelang ist bei dieser Familie alles glattgelaufen, dann hat sich ihr Mann, ein Architekt, von ihr getrennt. Der Junge ist bei ihr geblieben, und zuerst lief es auch dann noch sehr gut. Erst als sie ihren Arbeitsplatz verloren hat, setzte eine bemerkenswerte Abwärtsspirale ein. Sie hat den
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