Nervenflattern
verlieren zu können.
»Gehen wir.«
Die ersten 200 Meter gingen sie im Abstand von etwa einem Meter die Werner-Hilpert-Straße hinunter. Sie hielt sich immer ein kleines Stück hinter ihm. Lenz hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, also hielt er den Mund. Etwa alle 10 Meter dachte er darüber nach, die Frau durch einen Sprung zu überwältigen, aber letztlich fehlte ihm der Mut dazu. Einmal klingelte sein Mobiltelefon, aber er beachtete es nicht. Wahrscheinlich war Hain auf der Suche nach ihm.
Simone Tauner ging ruhig neben ihm her und sah in den Himmel. Auf Höhe einer Kneipe, in deren Innenhof ein vollbesetzter Biergarten zu sehen war, drehte sie den Kopf in seine Richtung.
»Sie müssen keine Angst haben, Herr Lenz. Wir gehen ein Stück, ich erzähle Ihnen das eine oder andere, dann trennen wir uns und sehen uns nie wieder.«
Die ist total plemplem, dachte Lenz.
»Nach Ihnen wird auf der ganzen Welt gefahndet, Frau Tauner. Ich fürchte, Sie sind sich nicht über die Tragweite Ihres Handelns im Klaren. Ihr Auftauchen hier mit diesem Arsenal des Schreckens unter der Jacke wird jeder Richter als Geständnis werten, wenn es das dann noch brauchen sollte.«
Er sah sie von der Seite an. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der Frau auf dem Foto, das ihr Exmann ihm gegeben hatte und das als Vorlage für ihr Fahndungsfoto diente. Ihr Gesicht war zerfurcht und faltig, sie sah alt aus, nicht wie eine Frau um die 40. Die roten Haare hingen ihr strähnig in die Stirn und wirkten ungepflegt, so, wie alles an ihr schäbig aussah.
»Ich werde nie vor einen Richter treten, Herr Lenz. Und Sie können mir glauben, dass ich das genau so meine, wie ich es sage. Es ist sicher schon öfter vorgekommen, dass Mörder gesagt haben, sie hätten nichts zu verlieren, aber es hat noch nie so viel Wahrheit in einer solchen Aussage gesteckt wie in meiner.«
Sie sah ihn eindringlich an.
»Ich habe nichts mehr zu verlieren!«
Lenz lief ein Schauer über den Rücken, als er realisierte, dass er ihr glaubte. Seine Müdigkeit war komplett verflogen. Sie war der Angst gewichen, eine falsche Entscheidung zu treffen. Er fragte sich, wie weit er sie reizen konnte, ohne eine unbeherrschte Reaktion zu provozieren.
»Haben Sie Hunger?«, fragte sie, jetzt wieder in einem völlig unverbindlichen Tonfall.
Lenz glaubte, seine Ohren würden ihm einen Streich spielen. Wollte die Frau ihn verarschen?
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Kommen Sie, Herr Lenz. Eine einfache Frage, eine einfache Antwort. Lassen Sie uns essen gehen, ich zahle auch.«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. Entweder war sie wirklich schwer gestört, oder sie hatte keine Ahnung, in was sie sich hineinmanövrierte. Aber auch Lenz war klar, dass die Argumente, die vor ihrer Brust baumelten, besser waren als seine. Und Hunger hatte er tatsächlich.
»Gehen Sie mit mir ins ›Casa Manolo‹. Das war das Lieblingslokal von Brill«, schlug sie vor.
Als Lenz den Namen ihres zweiten Mordopfers hörte, krampfte sich sein Magen zusammen. Neben ihm ging eine Mörderin, und er konnte nichts weiter tun, als sich von ihr vorführen zu lassen.
»Warum haben Sie Brill getötet?«
»Das wissen Sie vermutlich bereits. Er hat mir meinen Sohn weggenommen. Er hat immer so getan, als würde er es nie dazu kommen lassen, um mir dann eiskalt das Sorgerecht zu entziehen. Und sehen darf ich Kevin auch nicht.«
Lenz fragte sich, wie viel die Frau ihm von seinem Wissen glauben würde, und was er ihr überhaupt davon erzählen durfte. Er beschloss, einen Versuchsballon zu starten.
»Und warum mussten dann Hainmüller und seine Frau auch noch dran glauben?«
Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich komplett stehen.
»Wer?«
Lenz drehte sich um und sah ihr fest in die Augen.
»Gehen wir zum Spanier, Frau Tauner. Setzen wir uns dorthin und tun so, als hätten Sie nicht mehrere Menschen ermordet. Sie erzählen mir, was ich wissen soll, und dann erzähle ich Ihnen die Dinge, die bis jetzt noch nicht zu Ihnen vorgedrungen sind. Ich bin müde, das können Sie mir glauben, aber ich bin wach genug, um Sie in Erstaunen zu versetzen.«
Auch wenn sie sich nichts anmerken ließ, glaubte er, sie beeindruckt zu haben.
Lenz ging schweigend weiter, rauchte eine Zigarette und versuchte, auf dem weiteren Weg nicht mehr zu sprechen. Das war feige, wie er sich eingestand, aber er konnte nicht anders. Er hatte Angst vor der Frau und dem, was sie mit sich herumtrug.
Fünf Minuten später standen
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