Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
klapprige und kurzsichtige Hausdiener stammte aus einer Familie, die den Jabboks schon seit drei Generationen diente. Eine Änderung seiner Lebensverhältnisse hätte ihn binnen weniger Wochen umgebracht. Jonathans Großvater wusste das natürlich und so wurde er nie müde auf das eherne Gesetz der jabbokschen Tradition zu verweisen, wenn Alfred wieder einmal leichtsinnigerweise um seine Entlassung bat.
Alfred winkte nicht. Auch dies gehörte zur Tradition – speziell der der Hausdiener. Diese hatten ihre Gefühle stets im Zaum zu halten und gegenüber den Herrschaften Distanz zu wahren. Ein Lächeln jedoch huschte über das faltenreiche Gesicht des alten Mannes und Jonathan dachte unwillkürlich an die Erzählungen seines Großvater, wie dieser ein kleiner Junge war und Alfred der jugendliche Sohn des damaligen Hausdieners. So manches Mal hatte der junge Lord denwesentlich Älteren geärgert und so manches Mal hatte er dafür von Alfred eine ordentliche Abreibung erhalten. Die beiden alten Männer verbanden also viele gemeinsame Erinnerungen
– ja, ein ganzes gemeinsames Leben.
Hinter Jonathan öffnete sich die Tür des Abteils und der Schaffner in schwarzer Uniform trat ein. »Master Jabbok, wir sind da. Darf ich Euch heraustragen?«
»Sie kennen mich?«, fragte Jonathan erstaunt.
Der Schaffner lächelte ein wenig steif und erwiderte: »Ihr erinnert Euch sicher noch daran, dass – wie hieß Euer Begleiter doch gleich noch…? Ach ja, Mister Falter! Also Mister Falter trug mir auf Euch hier, in Ballinluig, beim Aussteigen behilflich zu sein. Ihr würdet hier abgeholt werden, versicherte er.«
Der Bahnbedienstete schien zu wissen, wie es um Jonathan stand. Ohne weitere Umstände hob er den leichtgewichtigen Knaben von der Holzbank und trug ihn zum Ausstieg. Jonathan grübelte. Samuel hatte ihn also selbst zum Bahnhof nach Edinburgh gebracht. Wenn er sich doch nur erinnern könnte!
Als der Schaffner Jonathan ins Freie trug, stand bereits sein Rollstuhl auf dem Bahnsteig. Noch ehe er darin abgesetzt werden konnte, nahm ihn sein Großvater aus den Armen des Uniformierten entgegen, drückte ihn herzlich an sich und setzte ihn dann vorsichtig in den Rollstuhl.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Sohn! Jonathan, ich freue mich, dass du hier bist. Du siehst zwar weder gesünder noch kränker als sonst aus, aber wenn dir wirklich etwas Ernstes fehlt, dann bekommen wir das mit unserer gesunden Hochlandluft wieder hin. Darauf kannst du
Gift nehmen.«
»Das werde ich lieber nicht tun«, erwiderte Jonathan lachend.
»Herzlich willkommen, Master Jonathan«, mischte sich nun auch Alfred in das Gespräch ein. »Es ist eine Freude Euch wieder zu sehen. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht, als uns die Nachricht von Eurer Erkrankung ereilte.«
»Aber das habe ich doch schon alles erzählt, Alfred!«, ereiferte sich Lord Jabbok.
»Verzeiht, Mylord«, gab Alfred steif zurück.
Jonathan schmunzelte. Er kannte dieses Spiel, mit dem sich sein Großvater und Alfred die Zeit zu vertreiben pflegten. »Euch beiden scheint es jedenfalls gut zu gehen«, stellte er zufrieden fest.
Alle drei lachten (der alte und der junge Jabbok etwas lauter, Alfred ein wenig zurückhaltender).
»Also, dann lasst uns aufbrechen«, entschied Lord Jabbok. »Wenn wir Jabbok House bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen, dann müssen wir uns beeilen.« Er schob Jonathans Rollstuhl an den Gleisen entlang in Richtung Ausgang.
Alfred musste den Koffer des jungen Lords tragen – keine leichte Aufgabe für einen Mann, dessen Kraft zusammen mit dem letzten Jahrhundert vergangen zu sein schien. Er ertrug dies jedoch mit Fassung und unbewegter Miene.
»Hast du ein neues Automobil?«, rief Jonathan erstaunt, als sie das Bahnhofshäuschen umrundet hatten.
»Das war leider notwendig, mein Sohn. Da mein bisheriger Chauffeur etwa so gut sieht wie ein Regenwurm, musste ich ihn und das Automobil austauschen.«
»Aber warum hast du dir nicht nur einen neuen Fahrer gesucht und das Automobil behalten?«
Mit einem Seitenblick auf Alfred, der die beiden inzwischen schnaufend eingeholt hatte, verriet der Großvater dem Enkel: »Weil der Chauffeur es für angebracht hielt, das Automobil im Fluss zu waschen.«
»Er hat was getan?«
Das war für den armen Alfred zu viel. »Eure Lordschaft beliebten zu bemerken, dass es dem Fahrkomfort dienlich wäre, sich ein wenig mehr rechts zu orientieren.«
»Dem Fahrkomfort? Ich habe
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