Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
dich doch nur nach rechts geschickt, weil du sonst gegen den Baum gefahren wärst. Davon, dass du das Automobil in den Allt Gleann Da-Eig steuern sollst, habe ich nichts gesagt.«
»Und euch beiden ist bei alldem nichts passiert?«, erkundigte sich Jonathan besorgt.
»Nun, die Uferböschung zeigte sich tatsächlich in äußerst ungepflegtem Zustand«, erinnerte sich Alfred. »Die Abfahrt zum Fluss war deshalb alles andere als bequem. Doch zu guter Letzt war die Anzahl der Beulen, die Euer Herr Großvater und meine Wenigkeit zu verzeichnen hatten, nichts im Verhältnis zu dem, was das Automobil davontrug.«
»Na, dann ist es ja gut.«
»Gut?«, empörte sich der alte Lord. »Na, wenn du das, was mich dieser kurzsichtige Greis mit seinen Rennfahrerambitionen gekostet hat, als gut bezeichnest, dann möchte ich nicht wissen, was in deinen Augen schlecht ist.«
Pikiert warf Alfred ein: »Ich habe Euer Lordschaft mehr als einmal angeboten, meinen Aufgabenbereich einem Jüngeren zu übertragen.«
»Und ich habe Euer Dienerschaft schon mehr als einmal gesagt, dass ich dieses grüne Gemüse, das nur ans Heiraten und Geldverdienen denkt, nicht gebrauchen kann.«
Alfred spielte den Beleidigten. Mit erhobenem Kinn und vorgeschobener Unterlippe schaute er demonstrativ an Lord Jabbok vorbei und schwieg.
Alte Leute führten sich manchmal wie Kinder auf. Jonathan seufzte und stellte fest: »Eins zu null für dich, Großvater. Aber könnt ihr nicht zu Hause weiter streiten?«
»Ich streite mich doch nicht«, beteuerte Lord Jabbok trotzig. »Der alte Narr hat doch bekommen, was er wollte. Da ist unser neues Automobil und da unser neuer, junger Chauffeur. Peter ist sein Name.«
»Master Jonathan«, grüßte der schneidige junge Mann.
»Guten Tag, Peter«, grüßte Jonathan freundlich zurück.
Peter nahm Alfred den Koffer aus den Händen. Der arme alte Butler hatte sichtlich Mühe gehabt das Reisegepäck bis zum Auto zu schleppen. In den Händen Peters wirkte der Koffer wie eine leere Pappschachtel.
Alfreds Blick traf seinen Nachfolger von sehr weit oben herab, sofern dies bei dem um zwei Köpfe größeren Peter überhaupt möglich war. »Anfänger«, bemerkte er verächtlich und drehte dabei die Augen himmelwärts. »Ein guter Diener lässt sich nicht anmerken, wenn er eine Aufgabe mit Leichtigkeit erfüllt. Man bekommt nämlich so lange immer mehr aufgebürdet, bis man wirklich seine liebe Mühe hat alles zu bewältigen.«
Statt einer Antwort ließ Peter den Koffer mit beiden Händen niedersinken, packte ihn mit verbissenem Gesicht am Tragegriff und schleppte ihn mit großer Mühe zum Auto.
Alfreds kollegialer Ratschlag war dem alten Lord nicht entgangen. Er lächelte triumphierend und bemerkte: »Ach so stellst du alter Fuchs das also an; gut zu wissen, dass du noch solche Reserven hast.«
Ebenso ungerührt wie souverän erwiderte Alfred: »Wenn ich es die vergangenen zweiundsechzig Jahre nicht so angestellt hätte, wie Euer Lordschaft es zu nennen belieben, dann hättet Ihr Euch schon vor langer Zeit mit der lästigen Suche nach neuem, geldgierigem und heiratswütigem Personal befassen müssen.«
»Jetzt übertreibst du aber, Alfred!«, entrüstete sich Lord Jabbok. »Ich bin doch kein Sklaventreiber. Und schon gar nicht seit zweiundsechzig Jahren – damals war ich ja noch ein kleines Kind.«
»Gerade drum«, versetzte Alfred.
»Eins zu eins, Alfred. Du hast den Ausgleich geschafft.« Jonathan amüsierte sich, obwohl er sehr müde war und heftig gähnte.
»Natürlich, du musst ja todmüde sein«, meinte sein Großvater besorgt: »Lasst uns aufbrechen. Jabbok House wartet schon auf den Heimkehrer.«
Während der gut zweistündigen Fahrt von Ballinluig zum Familiensitz der Jabboks nahm Jonathan nur wenig von der rauen Schönheit der Landschaft wahr, die mit ihren alten gälischen Namen so eng verwoben war wie die Kett-und Schussfäden eines schottischen Tartans. Einerseits kannte er diese Strecke schon durch seine unzähligen Ferienbesuche auf Jabbok House, andererseits hatten ihn die Ereignisse seines letzten Traumes in eine grüblerische Stimmung versetzt. Sein Großvater deutete Jonathans Verhalten als Anzeichen von Müdigkeit und ließ ihn in Ruhe. Alfred hatte auf dem Vordersitz neben Peter Platz genommen und schien die Aussicht zu genießen. Jonathan wusste jedoch, dass der kurzsichtige alte Diener bestenfalls den Wechsel von Farbflächen wahrnehmen konnte. Er erinnerte sich noch an die vielen
Weitere Kostenlose Bücher