Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
auf und sagte verblüfft: »Ich verstehe immer noch nicht, wie du dich dadurch vermehren kannst.«
»Fällt euch nichts daran auf?«, fragte Din-Mikkith.
Yonathan zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Der Gegenstand war für ihn so verwirrend und fremdartig, dass ihm zugleich alles und gar nichts auffiel.
Yomis Augen begannen zu glänzen. Er hatte den Kern der Sache erkannt. »Es fehlt etwas daran. Es ist irgendwie… unvollständig.«
»Du sagst es, Kleines«, bestätigte Din-Mikkith mit lächelnder Miene.
Yomi, der den stämmigen Behmisch um mehr als einen Kopf überragte, überhörte die etwas ungenaue Angabe, seine Körpergröße betreffend.
»Dies ist ein Keim.« Din-Mikkith setzte an, das Geheimnis um den grünen Gegenstand in seiner Hand zu lüften. »Genauer gesagt, es ist nur ein halber Keim. Wir Behmische tragen dies unser ganzes Leben lang bei uns. Erst wenn ein Keim mit einem zweiten zusammengefügt wird, kann daraus neues Behmisch-Leben entstehen.«
»Aber dann könnt ihr ja nicht eure Kinder und Enkel aufwachsen sehen«, stellte Yonathan fest. »Warum warten die Behmische so lange, bis sie ihre Keime vereinigen?«
»Der Grund ist sehr einfach, kleiner Stabträger.« Din-Mikkiths Zischeln klang sehr sanft. »Wir geben unser Wissen in unserem Keim weiter. Unsere Kinder lernen aus unserem eigenen Leben.
Je später wir daher das Keim vom Herzen nehmen, desto mehr können wir an unsere Nachkommen weitergeben.«
»Soll das heißen, dass du dich an alles, was dein Vater… oder deine Mutter…«, er schüttelte den Kopf, um den Gedanken klar fassen zu können, »jedenfalls, was deine Eltern jemals gelernt und erlebt haben, erinnern kannst?«
Din-Mikkith kicherte amüsiert. »Nicht an alles, Yonathan. Genauso wenig, wie man sich an alles erinnern kann, was man irgendwann im Leben gesagt oder getan hat. Aber ich weiß noch sehr viel von meinen Eltern und von deren Eltern davor und so weiter und so fort.«
»Und das alles ist in diesem kleinen Keim aufbewahrt?« Yonathan konnte es kaum fassen. Das Wissen der Behmisch-Welt in einer halben Kastanie gespeichert – erst jetzt ahnte er, dass es wirklich ein grünes Wunder war, das da so unscheinbar in Din-Mikkiths Handfläche ruhte.
»Möchtest du es einmal spüren?«, lud Din-Mikkith ihn ein.
»Spüren? Ich? Aber wie…?« Yonathan war perplex.
Din-Mikkith schaute mit ernsten Augen zu Yomi hinüber. »Mir scheint, dein kleiner Freund leidet unter einem Aber-wie-Problem?«
Yomi hob die Schultern und bemerkte: »Er ist halt sehr wissbegierig.«
»Das kann nicht schaden. Ich weiß, dass du es spüren kannst, Yonathan. Ich habe vorhin bemerkt, wie dein Geist sich dem meinen genähert hat. Hier, nimm, und du wirst fühlen, was ich meine.« Din-Mikkith setzte sich auf das Bett, in dem Yonathan noch immer lag, und streckte ihm die geöffnete Hand entgegen. Alle Finger einschließlich der beiden Daumen waren weit abgespreizt. Der Keim präsentierte sich wie auf einem merkwürdigen grünen Tablett.
Während Din-Mikkiths untere Körperhälfte sich in Farbe und Zeichnung den unterschiedlichen Grüntönen der Bettkonstruktion anpasste, streckte Yonathan die Hand nach dem Keim aus. Auf halbem Wege hielt er inne, ohne das matt schimmernde Objekt zu berühren. Er blickte zögernd in Din-Mikkiths grüne Augen. Der Behmisch schien mehr von ihm zu wissen, als er sich erklären konnte. Yonathan konnte selbst kaum fassen, dass er die Empfindungen anderer Wesen erfühlen konnte; diese kleine, faltige, grüne Person an seiner Seite aber hatte sein körperloses Tasten bemerkt, ohne dem viel Bedeutung beizumessen. Trotzdem fühlte er sich ertappt. Er schüttelte die Zweifel ab. Sein forschender Geist hatte weder Berechnung noch böse Absicht in den Gefühlen des Behmischs erkennen können – kein Grund zur Beunruhigung also.
Din-Mikkith schien seine Gedanken zu erraten. »Nun nimm schon. Es kann nicht beißen.«
Langsam schloss sich Yonathans Linke um den Keim, während seine Rechte unter der Decke den Stab Haschevet umklammerte.
Die grüne Halbkugel fühlte sich warm an. Yonathan blieb kaum Zeit darüber nachzudenken, denn das Gefühl, das über ihn hereinbrach, war mit nichts zu vergleichen, was er bisher je empfunden hatte. Er verlor jeden Bezug zu seiner Umgebung. Ein Sturm von Farben entfaltete sich und er bemerkte, dass das Sehen seiner Augen und das seines Geistes eins geworden waren. In wenigen Momenten zog das Leben Din-Mikkiths an
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