Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
ihm vorüber, das seiner Eltern und seiner Vorfahren bis hin zu den ersten Behmischen, die einst auf Neschan wandelten. Ein Hochgefühl überkam ihn, weit stärker als die gelockerte Stimmung nach dem warmen, gewürzten Wein auf der Weltwind oder als jener sorglose Gleichmut, den er im grünen Nebel, in dem wandernden Sumpf, empfunden hatte. Ein wenig erinnerten ihn diese rasend vorbeifliegenden Bilder an die Art und Weise, wie der Baum Zephon mit ihm »gesprochen« hatte. Noch ehe Yonathan sich darüber klar werden konnte, was geschah, erreichte er – gleich einem Wettläufer, der unter Aufbietung aller seiner Kräfte eine Runde in der Arena gelaufen war – wieder den Ausgangspunkt: Din-Mikkiths Leben. Gerade begannen die Bilder deutlicher zu werden, da sprang ein schmerzliches Gefühl aus dem Strudel der Bilder hervor und Yonathan öffnete erschrocken die Hand. Der Keim rollte heraus.
Die Wirklichkeit kehrte mit einem Schlag zurück. Fast erstaunt bemerkte Yonathan, dass er noch immer auf dem grünen Lager saß, in der grünen Kammer, neben dem grünen Din-Mikkith und dem weiß-braunen Yomi. Keuchend, als wäre er tatsächlich die Runden in der Wettkampf-Arena gelaufen, ließ er sich zurücksinken.
»Was ist passiert?«, fragte Yomi besorgt.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappen würde«, sagte Din-Mikkith zu sich selbst. Eine Spur von Anerkennung mischte sich in sein Lispeln.
»Dass was so gut klappen würde?«, fragte Yonathan. Er fühlte sich überrumpelt, weil der Behmisch ihn nicht vorher von der Wirkung des Keims in Kenntnis gesetzt hatte. Nun wusste er nicht, ob er erzürnt oder überrascht sein sollte.
»Mit dem Keim sprechen«, gluckste Din-Mikkith vergnügt. »Das kann nicht allein das Koach sein. Goel hat es jedenfalls – obwohl er ein erfahrener Stabträger war – nie sehr weit gebracht, wenn es versuchte mit den Lebenden Dingen zu sprechen. Dir scheint es angeboren zu sein und das Stab verstärkt deine Wahrnehmungen nur noch.«
Yonathan wurde nicht ganz schlau aus Din-Mikkiths Worten. »Wie kommt es, dass ich immer nur die Hälfte von dem verstehe, was du sagst?« Er blickte Hilfe suchend zu Yomi, doch dem ging es nicht besser. »Was meinst du damit, ich könne ›mit den Lebenden Dingen sprechen‹«, wandte er sich wieder ihrem Gastgeber zu.
Din-Mikkith schüttelte den Kopf. »Entschuldige, kleiner Stabträger, ich habe schon so lange nicht mehr mit Menschen gesprochen, dass ich mich erst wieder daran gewöhnen muss.
Unser Volk bezieht seine Kenntnisse nicht nur aus den Keimen der Vorfahren. Wir lernen auch von den anderen Lebenden Dingen, den Bäumen, Gräsern, den Vögeln und Bienen – eben von allem, was lebt.«
»Du kannst mit Bäumen und Bienen sprechen?«
»Nun, wir nennen es zwar ›sprechen‹, aber es ist kein wirkliches Sprechen, so wie ihr Menschen euch miteinander unterhaltet. Bienen sind zu dumm zum Plaudern und Bäume sind stur und schweigsam.«
Mit geschlossenen Augen, als koste es ihn ein gewaltiges Maß an Konzentration, fragte Yonathan: »Wie machst du es dann? Ich meine… ist es das Summen der Bienen… oder das Rascheln der Baumkronen… oder was?«
»Ja und nein.«
Yonathan öffnete wieder die Augen, schaute Din-Mikkith ins ausdruckslose Gesicht und überlegte, ob er das Thema fallen lassen und es später noch einmal versuchen sollte. Aber da gab es noch eine andere Seite. So oft führte ihn sein Weg nicht durch das Verborgene Land und außerdem war Din-Mikkith schon sehr alt, was man, fand Yonathan, schon an dem eigenbrötlerischen Verhalten des Behmisch erkennen konnte. Wer wusste schon, ob er ihn jemals wieder sehen würde. Nein, er musste dieser Frage hier und heute auf den Grund gehen.
Din-Mikkith hatte wohl Yonathans Verwirrung bemerkt und fügte erklärend hinzu: »Ich will dir ein Beispiel geben. Du kennst sicher Schlangen?«
Yonathan nickte.
»Es gibt einige Schlangenarten – ich glaube, ihr nennt sie Vipern –, die können ein Mäuslein allein durch seine Körperwärme orten, wenn es in einer Elle Entfernung an ihnen vorbeizuschleichen versucht. Glaubst du, dass du das könntest?«
»Wohl nicht.«
»Siehst du«, freute sich Din-Mikkith, als wäre jetzt alles klar, »und genauso verhält es sich, wenn wir mit den Lebenden Dingen sprechen.«
»Ehrlich gesagt: Ganz verstehe ich es immer noch nicht.«
»Oh, diese Menschen! Warum versucht man nur immer wieder ihnen etwas begreiflich zu machen?«, rief der Behmisch aus. An Yonathan
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