Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
ist wie ein zweischneidiges Schwert.«
Yonathan runzelte die Stirn. »Was ist daran so schlimm, wenn man sich alles merken kann?«
»Nun, die Erinnerung des Koach ist mehr als das – sie ist das vollkommene Gedächtnis. Du denkst wahrscheinlich nur an die guten und nützlichen Dinge, an die man sich erinnern kann. Oft jedoch ist das Vergessen ein Schutz. Denke nur an die Trauer, die der Verlust eines lieben Menschen verursacht, einen schmerzlichen Abschied, die Qualen einer schrecklichen Krankheit oder Unrecht, das einem widerfährt. Die im Laufe der Zeit verblassende Erinnerung ist wie ein Wundpflaster, das diesen Schmerz zu lindern und oft sogar zu heilen vermag. Ein vollständiges Erinnern an solche Erlebnisse könnte jedoch den Schmerz vervielfachen, vielleicht sogar unerträglich machen.«
»Du hast gestern gesagt, der Stab sei ›das Symbol und zugleich auch das Mittel der Macht Yehwohs, des Koach‹, das ihn durchströmt. Wie kann er dann Schaden anrichten? Jedes Kind weiß doch, dass Yehwoh nichts Böses zu tun vermag.«
Navran lächelte. »Lass mich dir mit einer Gegenfrage antworten. Ist die Beeren-Eibe böse?«
»Wie kann ein Baum böse sein?«
»Siehst du. Und trotzdem trägt sie Beeren, die Menschen und sogar Pferde töten können. Aber gehen wir noch einen Schritt weiter. Aus dem elastischen Holz der Beeren-Eibe lassen sich die besten Bögen fertigen, mit denen man so weit und so genau schießen kann wie mit keinen anderen. Nun sag mir: Ist ein Bogen etwas Böses?«
»Jetzt begreife ich, was du sagen willst. Weder die giftige Beere der Eibe noch der Bogen sind schlecht. Wenn sie aber verkehrt verwendet werden, dann können sie Böses anrichten… Und du meinst, dass das Gleiche auf den Stab Haschevet und das Koach zutrifft?«
»Ja. Mit der Macht des Stabes ist es genauso wie mit den natürlichen Gaben jedes Menschen: Man muss lernen sie zu gebrauchen. Deshalb mag es auch eine gewisse Zeit dauern, bis du verstehst, deine eigenen Kräfte und deinen Willen so zu formen, dass sie der Stab in der gewünschten Weise umsetzen kann. Aber ich glaube, dass es dir nicht sehr schwer fallen wird.«
»Du hörst dich sehr zuversichtlich an«, bemerkte Yonathan skeptisch.
»Du bist von jemandem erwählt worden, der dich und deine Fähigkeiten besser einschätzen kann als jeder sonst, sogar besser als du selbst. Ich wusste schon immer, dass vieles in dir steckt, schon damals, als du als kleiner Knabe an unsere Küste geschwemmt wurdest.«
Yonathan seufzte tief, straffte die Schultern und sagte: »Du hast Recht. Es fällt mir nur schwer mich so lange von dir zu trennen.« Er stand von seinem Stuhl auf, stellte sich neben den alten Mann und legte ihm den Arm um die Schulter.
»Lass uns sehen, was ich noch für dich herausgesucht habe.«
Die Erläuterungen zur Macht des Stabes hatten Yonathan so gefesselt, dass er die Gegenstände aus Navrans Truhe bisher kaum beachtet hatte. Sein Blick huschte schnell über die drei Stücke auf dem Tisch und blieb schließlich fasziniert an dem letzten haften.
Navran griff jedoch zunächst nach einem kleinen, dunkelbraunen Beutel von der Größe einer Männerfaust. Die Börse – oder was immer es war – bestand aus abgewetztem Rauleder und sah ziemlich schäbig aus. Eine Lederschnur, die sich durch viele kleine Löcher am oberen Rand zog, verschloss das Säckchen. Die einzige Verzierung, die es aufwies, war ein mit goldenem Faden gesticktes Quadrat an der Unterseite.
»Das ist kein gewöhnlicher Beutel«, erläuterte Navran. »Er gehörte einmal Goel, dem sechsten Richter Neschans, so wie auch die anderen beiden Gegenstände hier auf dem Tisch. Es war nicht leicht sie wieder zu finden, obwohl Goel sie mir genau beschrieben hatte.«
Yonathan riss vor Erstaunen Mund und Augen auf. »Du hast Goel gekannt und mit ihm gesprochen? Das hast du mir nie erzählt! Ich dachte immer, du hättest nur bei seinen Boten gedient, aber wenn du selbst mit ihm gesprochen hast, musst du ja…«
»… einer der Charosim sein?«, vollendete Navran den begonnenen Satz. Er nickte. »Ja, Yonathan, das bin ich.«
»Aber warum hast du nie ein Wort davon gesagt? Hätte ich davon gewusst…«
»Was hättest du dann getan?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich den stolzen und aufgeblasenen Bewohnern Kitvars gesagt, mit wem sie es zu tun haben. Mit einem der Vierzig kann man schließlich nicht so umgehen.«
»Siehst du, Yonathan – und genau das wollte ich vermeiden.«
Yonathan schüttelte
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