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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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glitt die Schneide ganz leicht durch den Stein.
    Yonathan starrte mit offenem Mund auf die unversehrte Klinge des Dolches. »Ich kann es nicht fassen… Plötzlich ging es ganz leicht.«
    »Du hast jetzt begriffen, wie man mit dem Dolch schneidet. Jetzt musst du noch lernen, wie man mit dem Dolch nicht schneidet.«
    Für Yonathan sprach Navran in Rätseln. »Lernen, wie man nicht schneidet?«
    »Ja, das habe ich gesagt.« Dann hielt er Yonathan seine Handfläche hin und sagte: »Hier, setzte den Dolch so an, wie du es bei dem Wetzstein getan hast und schneide mich nicht.«
    Jetzt verstand Yonathan! Die Klinge verhielt sich so, wie man es von ihr erwartete: Sie schnitt nur, wo sie sollte. Nichts wollte er weniger, als Navran verletzen. So setzte er die Schneide des Dolches auf Navrans Hand und zog sie darüber.
    Nicht der kleinste Kratzer war zu sehen.
    »Jetzt hast du begriffen«, stellte Navran zufrieden fest.
    »Das ist wirklich ein prächtiges Stück!«, sagte Yonathan bewundernd. Er blickte der Reihe nach auf Haschevet, den Beutel, das Fläschchen und den Dolch. »Auch wenn ich das alles einmal wieder weggeben muss, bin ich doch sehr glücklich, dass du es mir für eine gewisse Zeit anvertraut hast, Navran. Ich werde alles in Ehren halten.«
    »Nicht ich habe dir diese Gegenstände anvertraut, Yonathan. Du wurdest zum Stabträger erwählt. Haschevet ist ein Teil der Prophezeiung; diese anderen Dinge sind nur Hilfsmittel, die Yehwoh einst gesegnet hat, um seinen Dienern in Zeiten der Not beizustehen.«
    »Das alles ist so kostbar!«, sagte Yonathan. »Ich habe ein wenig Furcht, dass mir eines dieser wertvollen Stücke gestohlen werden könnte. Die Reise ist lang und selbst ein ehrlicher Mensch könnte, wenn er den wertvollen Dolch zu Gesicht bekommt, auf dumme Gedanken kommen.«
    »Darüber solltest du dir nicht zu viele Sorgen machen, Yonathan. Befestige die Scheide des Dolches ruhig an deinem Gürtel, sie wird anderen nicht weiter auffallen. Der Dolch ist nicht nur so scharf oder so stumpf wie du es willst. Er ist auch so unauffällig wie du es möchtest. Andere werden in ihm – wenn überhaupt – nur ein altes Jagdmesser sehen, ein Kinderspielzeug, das zu betrachten sich nicht weiter lohnt.«
     
     

Ein seltsamer Vogel
     
    Wie im Fluge war die Zeit vergangen und auf einmal musste sich Yonathan beeilen, damit er noch rechtzeitig den Hafen erreichte. Navran hatte, während Yonathan seinen Seesack packte, einen Brief aufgesetzt.
    »Der ist für Baltan«, hatte er gesagt. »Hör gut zu.« Die wenigen Zeilen waren schnell vorgelesen. »Jeder in Cedanor kennt den Kaufmann Baltan, er ist sehr reich, vor allem sehr einflussreich. Sobald ihr den Hafen der Stadt angelaufen habt, wende dich sogleich an ihn. Du findest sein Haus in der Oberstadt, direkt bei den Klippen. Wir sind alte Freunde und er wird dir helfen eine Karawane nach Ganor zu bekommen. Wenn du die Gartenstadt erst einmal erreicht hast, dann wirst du auch bald Goel gegenüberstehen.«
    Yonathan hatte den Brief in seinem Wams verstaut, um sicherzugehen, dass er ihm nicht abhanden kommen konnte – eine kluge Entscheidung, wie sich noch herausstellen sollte. Die machtvollen Gegenstände – der Beutel, das Fläschchen und der Dolch – hingen an dem Gürtel, der seine Tunika aus braunem Rauleder zusammenhielt. Unter diesem ärmellosen Obergewand, das ihm nicht ganz bis zu den Knien reichte, trug er ein weites Hemd aus ungebleichtem Leinen und eine braun gefärbte, wollene Hose. Den Köcher mit dem Stab Haschevet hatte sich Yonathan auf den Rücken geschnallt. Den Seesack, in dem sich seine wenigen Habseligkeiten befanden, trug er über der Schulter.
    Yonathans freie Hand wanderte zur Brust. Dort hing etwas, das ihm Kopfzerbrechen bereitete – seine Flöte.
    Seine Flöte?
    Er hatte sich schon von Navran verabschiedet, als der plötzlich sagte: »Möchtest du deine Flöte nicht mit auf die Reise nehmen?« Yonathan blickte sprachlos auf das Instrument, das Navran ihm entgegenhielt. Yonathan erklärte, dies sei nicht sein Instrument, doch Navran beharrte: »Aber mein Junge, ich kenne doch deine Hirtenflöte.« So hatte Yonathan sie genommen, an einem ledernen Halsband befestigt und ihr den Platz ihrer verloren gegangenen Schwester gegeben – direkt über seinem Herzen.
    Während er den Klippenweg hinabschritt, betrachtete er das Instrument genauer. Obwohl es nicht dasjenige war, das er einst von Lemor, dem Schafhirten, geschenkt bekommen hatte, schien es

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