Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Form von Wolken über die ganze Welt auszubreiten.« Das, so las Yonathan, war der Ursprung für die Winde, die den Leben spendenden Regen mit sich brachten, und für den ewig währenden Rhythmus der Gezeiten.
»So hat selbst der Fluch Oßehs und die Verdammnis Sevels noch einen Segen für Neschan gebracht«, schloss die Legende und Yonathan brachte die Vorlesung mit einem Knall zu Ende, indem er das Schiffslogbuch mit lautem Schlag zuklappte. Dann fragte er Yomi: »Glaubst du an diese alten Göttersagen?«
Sein Freund antwortete zögernd: »Nun… seit ich bei Kaldek lebe, hat mich nie jemand etwas anderes gelehrt.«
Yonathan wollte seinen älteren Freund nicht verletzen. Deshalb erwiderte er: »An den meisten Legenden ist etwas Wahres dran. Mir gefällt es, dass du den Glauben an die Götter noch nicht verloren hast, wie so viele heute.«
»Glaubst du etwa auch an die Götter der Seeleute?«
»Die Seeleute geben ihren Göttern diese Namen, die Kaufleute solche und alle möglichen Sippschaften verleihen ihnen noch weitere. Es ist manchmal schwer sich da zurechtzufinden.«
»Welche Namen gibst du ihnen denn?«
»Ich finde, ein Gott sollte in der Lage sein sich selbst einen Namen zu geben.«
Yomi dachte nach. »Eigentlich schon. Doch woher sollen wir diese Namen dann erfahren?«
»Man lässt es sich von ihnen sagen.«
Yomi fiel in die Lehne seines Stuhles zurück und blickte Yonathan ungläubig an. »Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du mit Göttern sprichst?«
Yonathan fiel sein Gespräch mit Benel ein, dem Boten Yehwohs. War nicht auch Benel so etwas wie ein Gott? Nicht wirklich der allmächtige Vater aller Dinge, das war klar, aber ein Mächtiger, das war Benel ganz sicher. Er antwortete: »Man muss nicht immer mit den Göttern selbst sprechen. Manchmal schicken sie uns ihre Boten oder sie schreiben uns Briefe.«
»Briefe? Du meinst also, die Götter schreiben dir Briefe?«
Yonathan musste deutlicher werden, sonst würde Yomi ihn für verrückt halten oder ihm nicht mehr zuhören. »Diese Briefe sind nicht nur für mich bestimmt«, begann er. »Hast du schon einmal etwas von dem Buch der Richter Neschans gehört?«
»Vom Sepher Schophetim meinst du? Ja, natürlich. Mein Vater hatte mir regelmäßig daraus vorgelesen.« Yomi drohte wieder in trübe Erinnerungen abzugleiten. Doch er fing sich wieder und fügte hinzu: »Das ist allerdings schon ziemlich lange her und seitdem bin ich nur im Glauben an die Götter der Seeleute erzogen worden. Das heißt, ich hab halt hier und da was aufgeschnappt und was mir gefiel, das habe ich behalten. Vom Buch der Richter Neschans habe ich allerdings seither nichts mehr gehört.«
»Vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, dass dein Vater dir einmal eine Geschichte aus der Rolle Yenoach vorgelesen hat – du weißt schon, es ist das erste der sechs kleinen Bücher, aus denen sich das Sepher Schophetim zusammensetzt. Diese Geschichte handelt von einem König.
Weil sein Königreich so groß war, hatte er Fürsten eingesetzt, die ihm bei der Regierung der Provinzen seines Reiches Hilfe leisten sollten. Lange lebte das Reich in Frieden, bis einer der Fürsten begann die Gesetze des Königs zu missachten.«
»Ich erinnere mich tatsächlich an diese Geschichte!«, rief Yomi verwundert aus. »Woher weißt du, dass mein Vater sie mir vorgelesen hat?«
»Diese Geschichte ist so bekannt, dass sie wohl jeder kennen muss, der sich schon einmal mit dem Buch der Richter Neschans beschäftigt hat.« Yonathan konnte seine Erzählung nun ungestört fortsetzen: »Der Teil des Reiches, in dem der eben erwähnte böse Fürst regierte, war bald von Verbrechen und Armut heimgesucht. Und so sandte der König des Landes Verwalter in das Gebiet des abtrünnigen Fürsten, erst einen, danach einen weiteren, bis es zuletzt sieben waren, die für den König eingetreten sind. Der letzte Verwalter hatte schließlich dafür gesorgt, dass der böse Fürst dem Gericht des Königs übergeben wurde und in dem geschundenen Land wieder Frieden einkehrte.«
Yonathan beugte sich vor und fragte: »Was glaubst du, waren die Verwalter des Königs wohl in der Lage, dem Volk den Namen ihres Königs zu nennen?«
Yomi schaute Yonathan verdutzt an. »Natürlich werden sie seinen Namen gewusst haben.« Und sich erinnernd fügte er hinzu: »Hat er den Verwaltern nicht sogar eine Buchrolle mitgegeben, in der er seine Anweisungen niedergeschrieben hat? Diesen Erlass wird er doch sicher mit
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